Warum bin ich ab und an so gefräßig?

Wenn ich an mein Problem denke, kommt mir unweigerlich das Wort ungeneusig in den Sinn, was so viel bedeutet wie gefräßig. Aber das bin ich nicht. Nur manchmal. Ganz selten. Aber dann richtig. 

Vermutlich werden Sie als Teil der Leserschaft mein Problem nicht nachvollziehen können. Schließlich sind Sie kultiviert, überdurchschnittlich intelligent, diszipliniert und lösen Probleme, die Sie als solche erkannt haben. Leider gelingt mir das nicht, daher erhoffe ich mir Lösungsvorschläge aus der Community.
Denn gestern ist es wieder passiert:
Als Beilage zu meinem Salat stand mir der Sinn nach gebratener Hähnchenbrust. Ich kaufte vorsorglich 1000 Gramm. Das sollte bis Sonntag reichen. 

ungeneusig

Zum besseren Verständnis muss ich erwähnen, dass ich normalerweise sehr diszipliniert esse: Morgens um 11 Uhr Haferflocken und Kaffee, abends um 18 Uhr Kohlenhydrate und Gemüse. Kaum Alkohol, keine Zigaretten, sportlich aktiv; selten Süßigkeiten, nur vierteljährlich Wurst oder Fleisch.

Die Hähnchenbrust habe ich in Streifen geschnitten und in der Pfanne knusprig gebraten. Dadurch werden die Stücke trocken und gesünder, denn ich bilde mir ein, dadurch sämtliche Rückstände wie Antibiotika, Schwermetalle und Hormone vernichtet zu haben. Was natürlich Unsinn ist, denn genau diese Zutaten verleihen einer Hühnersuppe ihre heilende Wirkung.

Na ja, jedenfalls war der Hähnchenbrustsalat sehr lecker.

Und hier zeigt sich mein Problem. 

Während ich am Schreibtisch saß, schweiften meine Gedanken ständig zur Küche ab, wo die einzelnen Hähnchenbrustscheiben auf Tellern zum Auskühlen lagen. Dieses Bild hatte ich permanent vor Augen, sodass ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte. Schließlich gab ich dem inneren Drang nach und verspeiste einige Fleischstücke, damit endlich Ruhe in meinem Kopf einkehrte und ich weiterarbeiten konnte. Leider war das nicht von Erfolg gekrönt. Was soll ich sagen? Nach einer Stunde waren sämtliche Teller leer gefuttert. Ein Kilogramm Hähnchenbrust lag schwer in meinem Magen. Zwar gegen alle Krankheitserreger auf Monate resistent, aber mir war schlecht und ich schämte mich für meine Zügellosigkeit. Bedauerlicherweise passiert mir das immer wieder. 

 

Einige Monate zuvor waren es Wiener Würstchen. Ich kaufte eine Vorratspackung mit vier Stück als Beilage für einen großen Topf Linsensuppe. Eine davon schaffte es als Beilage auf den Teller. Die anderen drei überlebten die nächste Stunde nicht. Verstehen Sie mein Problem?

Nun werden Sie sich fragen: „Warum kauft er nicht einfach von vornherein nur ein einzelnes Würstchen?“ Diese Frage ist berechtigt für eine kultivierte Person, wie Sie, die ihr Leben im Griff hat. Aber haben Sie schon einmal an einer Fleischtheke auf die Frage „Was wünschen Sie?“ mit „Ein Wiener Würstchen, bitte“ geantwortet? In genau diesem Moment wird es nämlich sehr still um Sie herum. Jeder schaut Sie an und scheint zu denken: „Wie einsam muss dieser arme alte Mann doch sein, der sich nur ein einziges Würstchen leisten kann?“
Besonders der pausbäckige Metzger vor Ihnen, mit seinen roten Wangen und den Schweißperlen auf der Stirn, zeigt förmlich sein Mitgefühl. In dieser emotionalen Situation sucht er länger als sonst üblich nach einem besonders schönen Exemplar zwischen all den Würsten, um es dann mit weichen, fließenden Bewegungen behutsam in ein Stück Pergament einzurollen. Man spürt förmlich, dass er am liebsten noch die Nummer der Telefonseelsorge beilegen würde, bevor er Ihnen die Papierrolle mit einem gütigen, wissenden Augenaufschlag über den Tresen reicht.

Auch einem Sechser-Pack Schoko-Riegel konnte ich nicht widerstehen und wäre fast daran gestorben, hätte meine Bauchspeicheldrüse nicht unentwegt Insulin in mich hineingepumpt.
Das ist doch kein Leben.

Ähnlich erging es mir vor Jahren. Da hatte ich noch Familie. Und es gab Gulasch zum Abendbrot.
Danach beobachteten meine Tochter und meine Frau, wie ich in der Küche aus dem Bratentopf mit einer Suppenkelle die Reste in mich hineinstopfte und anschließend den Kopf in den Bräter versenkte, um die Innenseite blitzeblank auszulecken. 

An diesem Abend habe ich höchstwahrscheinlich bei meiner Tochter den Rest väterlicher Autorität verloren und meine Frau an meinen besten Freund gleich mit.

 

Und kommen Sie mir nicht mit kaltem Entzug, wie es neulich ein – anderer – Freund vorgeschlagen hatte: Den Kühlschrank morgens mit einem Schloss versehen, den Schlüssel ganz nach oben auf das Regal legen und mich bis in die Abendstunden an meinem Schreibtischstuhl festbinden. Er meinte, ich müsse den Köstlichkeiten im Kühlschrank ähnlich widerstehen, wie Odysseus den todbringenden Gesängen der Sirenen. 

Welch ein Spaßvogel. Das würde nicht funktionieren.
Ich würde Mittel und Wege finden, mich mitsamt dem Stuhl an den Kühlschrank zu manövrieren, um dann die Kühlschranktür aufzunagen, um an den köstlichen Inhalt zu gelingen.


Verstehen Sie jetzt, weshalb ich um Hilfe suche? Nur bei wem? Bei einem Ernährungs-Doc, einem Psychiater, einem Psychoanalytiker oder sollte ich über das Problem mit meinem Friseur sprechen? Friseure sollen ja für alles eine Lösung parat haben.