Die Ästhetik der Grausamkeit - Anatomie eines Stierkampfs.

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Geschäftiges Treiben herrscht im weiten Rund der Arena. Tausende Aficionados (Liebhaber) sind an diesem wolkenlosen, heißen Samstagnachmittag gekommen, um dem traditionellen Ritual des Stierkampfes (Corrida de Toros) beizuwohnen – dem einzig verbliebenen öffentlichen Spektakel, bei dem man den Tod noch hautnah miterleben kann. Live: den Tod des Kampfstiers, des Matadors, des Banderilleros  oder eines der Helfer.

Sterkampf

Die Geräuschkulisse ebbt ab, als sich das Haupttor öffnet und aus der Dunkelheit schrille Fanfarenklänge die Corrida de Toros eröffnen. 

Spätestens jetzt, wenn sich die Musikkapelle – die Banda de Cornetas y Tambores – feierlich hinaus auf den Kampfplatz in Bewegung setzt und dabei den weltbekannten Pasodoble Torero – España Cañí – spielt, spätestens dann ist man so sehr vom beginnenden feierlichen Einzug (Paseillo) ergriffen, dass sich unwillkürlich die Nackenhaare aufstellen und viele Augen feucht werden.

Beifallsstürme brechen los, als hinter der Kapelle würdevoll die zwei Reiter in schwarzer Kleidung erscheinen – die Alguacilillos. Sie holen symbolisch die Erlaubnis des Veranstalters ein, den Stierkampf beginnen zu dürfen, und nehmen von ihm die Schlüssel der Arena entgegen.
Die Farbe Schwarz symbolisiert Autorität, Tradition und den Tod – ein Hinweis auf die Gefahr des Stierkampfs.
Präsident der Corrida ist in der Regel der Bürgermeister, der Polizeipräsident oder ein beauftragter Beamter. 

Stierkampf Eröffnung
Corrida de Toro

Der Beifall steigert sich, als die drei Matadore erscheinen, gefolgt von ihren Banderilleros, die später die Spieße in den Stier setzen, sowie den Picadores, den Lanzenreitern. Den Abschluss bilden die Peones – die Hilfstoreros.
Sie alle tragen zwar den Titel „Torero”, doch nur der „Matador” hat die Lizenz zum Stieretöten.
Zu jedem Matador gehören zwei Picadores, drei Banderilleros und die Peones.

Nachdem die Prozession beendet ist, kehrt Ruhe in den Rängen ein.
Die Toreros bereiten sich auf den ersten Kampf vor.
Sie beziehen Stellung hinter den mannshohen Schutzwänden, die mit schmalem Abstand vor der 1,60 Meter hohen Balustrade rund um die Arena errichtet sind und ihnen Schutz vor dem Stier bieten. Die Capote – ein großes schweres Tuch, das auf der einen Seite gelb und auf der anderen Seite pinkfarben ist – wird sorgfältig zurechtgelegt.
Mit der schwenkenden Capote soll der Stier zum Angriff gereizt oder abgelenkt werden.

An diesem Nachmittag werden sechs Stiere durch drei Matadores sterben.  Dabei sind der erste und der vierte Stier am gefährlichsten und werden vom 

„Primera Espada“, dem erfahrensten und angesehensten Matador, bekämpft.
Danach folgen der „Segunda Espada“, ein etablierter, aber weniger bekannter Torero, und dem „Tercera Espada“ oder „Novillero“, meist ein Nachwuchskämpfer, der sich noch beweisen muss. Ihm werden die beiden schwächsten Stiere zugewiesen. 

Spannung liegt in der Luft, als die Vorbereitungen abgeschlossen sind und das Tor geschlossen ist. Gleich wird der erste Stier in die Arena stürmen – jener Stier, der in der Nacht zuvor von seinen grünen, sonnendurchfluteten Weidegründen in einer dunklen Transportbox abtransportiert worden ist und nun in die tödliche Freiheit entlassen wird.

Kaum hat sich das Tor geöffnet, stürmt der Toro Bravo in die Manege.
Es ist ein Koloss von einem Stier. Seine stampfende Hufe, die mehrere hundert Kilo Muskelmasse tragen, lassen den Boden vibrieren, als würde eine U-Bahn unter der Arena hindurchfahren.
Das rote Band auf seinem Nacken signalisiert allen: Dieser Stier ist besonders aggressiv und unberechenbar.
Das wissen auch der Matador und seine Helfer. Schließlich ist es ein Miura –  legendär für seine Aggressivität und gefürchtet unter den Toreros. Er ist größer, schwerer und länger als jede andere Zuchtlinie. Seine Kampfkraft gleicht der einer Lokomotive. 

Es ist ein Prachtexemplar, das dort in der Mitte der Arena steht – kaum zu übertreffen an Schönheit und Anmut.
Sein massiger Schädel mit den furchteinflößenden Hörnern, die in einem weit ausladenden Bogen auf einer Ebene mit dem Schädel angeordnet sind und deren Spitzen himmelwärts zeigen, um tödliche Verletzungen in jede Art von Körper zu reißen, ist ebenso beeindruckend wie das gesamte muskelbepackte Bollwerk, das sich vom gewaltigen Vorderbau nach hinten hin in einer harmonischen Linie verjüngt. 

Hier steht die Schönheit des Ungezähmten, die Anmut der rohen Kraft – stolz und würdevoll. Eine Naturgewalt, die in jedem Muskel lebt.
Dieser Anblick würde in jeder deutschen Milchkuh die wildesten Fantasien auslösen. 

Stier in der Arena

Er ist wütend – das sieht man.
Sein Blick scheint nach dem Tor zu suchen, durch das er eben in die Arena gestürmt ist und durch das er nun schleunigst wieder entkommen möchte – zurück auf die Weide, zu seinen Kumpels. Doch da ist kein Tor mehr.
Verunsichert steht er in der Arena, noch ahnungslos, dass er in weniger als dreißig Minuten leblos in seinem eigenen Blut liegen und von drei Pferden aus der Manege gezogen werden wird.


Auf den Rängen ist es still geworden.
Tausende Augen sind auf den Stier gerichtet, der allein in der Manege steht und nicht weiß, was das alles zu bedeuten hat – das Stimmengewirr des Publikums, die Musik. Töne, die er noch nie in seinem Leben gehört hat.
Es ist heiß und windstill.
Er wird hungrig sein. Und durstig.
Er hat weder zu essen noch zu trinken bekommen, seit sie ihn weggeholt haben, letzte Nacht. 

Aufmerksam beobachtet er das Publikum, versucht die wilde Kakofonie zu deuten und ihre Quelle zu orten – vergeblich.
Plötzlich nimmt er seitlich eine Bewegung wahr.
Der Matador hat die Arena betreten und schwenkt die bunte Capote – die der Stier allerdings nur in Graustufen wahrnimmt.
Die „Suerte de Capote”, die Testphase, hat begonnen.
In dieser ersten Phase des Stierkampfs prüft der Matador das natürliche Verhalten des Tieres.
Er muss wissen: Greift er schnell oder zögerlich an? Dreht er bevorzugt nach rechts oder links ab – oder läuft er geradeaus?
Wie reagiert er auf Geräusche – Jubel, Applaus, Musik, die Stimme des Matadors?
Wie ist seine Kondition? Was ist mit seinen Augen? Hat er eine Sehschwäche oder eine leicht veränderte Augenstellung? Das könnte das Sichtfeld beeinflussen – und den Matador in einem Winkel sichtbar werden lassen, der sonst ein toter ist, in dem der Kämpfer sich sicher wähnt.  

Wie reagiert er auf Blickkontakt?
Folgt der Stier der Blickführung, dem seitlichen Augenwurf – lässt er sich lenken wie ein Hypnotisierter?

Wie reagiert er auf das geschwungene Tuch?
Lernt er schnell, dessen Bewegungen zu folgen – oder nur langsam?
Auch das wirkt sich auf die Qualität der späteren Kampfphasen aus.

All das erfährt der Matador in dieser Testphase – und das Publikum lernt dabei die Persönlichkeit des Tieres kennen und den Mut des Kämpfers. 

Der Matador ruft nach dem Stier.
Blitzartig wendet dieser seinen massigen Körper in Richtung der wedelnden Capote und stürmt los.
Doch das wedelnde Ding wird er nicht zerstören können – auch wenn er wieder und wieder mit gesenktem Kopf in das Tuch hineinstößt.
So geht es eine Weile. Dann hat der Matador genug gesehen. Er stellt seine Bewegungen ein und verlässt die Arena mit ruhigen Schritten in Richtung Schutzwand.
Gleichzeitig treten die Toreros hervor. Nacheinander schwingen sie ihre Capotes – und eine nach der anderen attackiert der Stier. 




Hochgezüchtete Kampfstiere reagieren innerhalb ihres Territoriums auf Bewegungen hyperempfindlich. Bewegungen lösen sofort Angriffsverhalten aus. Der Fluchtinstinkt ist durch Züchtung minimiert – wovor sollten sie auch flüchten? Sie gehen sofort zum Angriff über. Dabei ist es ihnen egal, ob ein Kleinkind unbekümmert mit einem Fähnchen wedelt oder an einem Traktor eine Fahne weht. Beides wird attackiert. Sofort.
Das wissen auch die Toreros. Sie wissen aber auch, dass die Tiere schlecht sehen.
Durch die seitlich angebrachten Augen haben sie fast einen Rundumblick.
Nur direkt hinter sich haben sie einen toten Winkel. Daher weichen die Toreros seitlich aus, um nicht aufgespießt zu werden.
Ihr peripheres Sehen ist eingeschränkt. Nur unscharf erkennen sie schnelle Bewegungen in der Ferne, reagieren aber darauf.
Auch können sie auf kurzer Distanz kaum sehen. Alles, was unter einem Meter vor ihrem Maul ist, nehmen sie kaum wahr.
Das ist auch der Grund, weshalb die Toreros regungslos vor ihnen stehen, besonders die Matadore, bevor sie ihren tödlichen Stich anbringen.
Allerdings ist der Platz vor ihren Augen alles andere als sicher, denn Stiere (auch Kühe) verfügen über einen empfindlichen Geruchssinn. In alten Stierkampf-Lehrbüchern wird der Wind oft als „unsichtbarer Gegner“ beschrieben. Der  „Duft des Todes” kann jedem Matador zum Verhängnis werden. Bei jedem Atemzug nimmt ein Kampfstier eine 300-fach höhere Geruchskonzentration wahr als der Mensch.
Er riecht Blut und den Angstschweiß des Toreros – und den anderer Stiere. Erfahrene Toreros tragen traditionell Zitrusparfüm, um ihren Angstschweiß zu maskieren. Ein einziger Schweißtropfen im falschen Moment kann den Stier zu einer Attacke provozieren. 

 

Die  Escuela Taurina de Madrid hat errechnet, dass bei Westwinden 78% aller Herzstiche gelingen, aber nur 63% bei Ostwind. Der Grund: Ostwind trägt den Elektrolytgeruch des Matadors direkt in die Nüstern des Stiers.

Während sich die Toreros gegenseitig den Stier ‘zuspielen’, erscheint der Picadore mit seinem Pferd auf dem Kampfplatz. 

Die Pferde der Picadores sind große, kräftige, dickhäutige Kreuzungen zwischen Andalusiern und Kaltblütern. Sie sind mit ca 700 kg – ähnlich schwer wie die Stiere –  gezüchtet, um deren Angriffe standzuhalten, die äußerst brutal verlaufen.
Die Pferde sind so ausgebildet, dass sie nicht durchgehen, sondern während der Attacken stillstehen, damit der Picador seinen Lanzenstich gezielt anbringen kann. Schutz bietet ihnen die „Peto“, eine dick gepolsterte Stoff- und Metallschürze, die Brust, Flanken und Unterbauch bedeckt. Ein Tuch über den Augen soll den heranbrausenden Stier unsichtbar machen – was dem Pferd wenig nützt, denn es spürt die Vibrationen und es hört ihn heranbrausen, auch wenn seine Ohren mit Wattekugeln oder einem kleinen Ball verstopft sein sollten.

Picador
Picador in der Arena

Diese Pferde sind die heimlichen Leidtragenden. Obwohl sie heutzutage seltener während der Angriffe sterben, sind sie doch physisch den gewaltigen Stößen der Kampfstiere ausgesetzt. Rippen brechen, Beine brechen, innere Organe werden gequetscht.
Nur noch selten findet ein Horn eine freie Stelle im Unterbauch – aber wenn, schlitzt es ihn auf.
Psychisch erleiden sie Qualen, weil ihr Fluchtinstinkt mit Gewalt unterdrückt wird.
Diese Prozedur erleiden sie bei jeder Corrida, solange sie nicht verletzt oder zu alt sind.

Als der schnaufende, sehr wütende Koloss das nervös tänzelnde Pferd entdeckt, stürmt er geradewegs los und der Picador richtet sein Pferd entsprechend aus, um den Angriff zu parieren.
Der seitliche Aufprall ist gewaltig. Das Publikum schreit auf.
Der Stier ist mit seinen Hörnern unter dem Pferd und … hebt es mitsamt dem Reiter hoch. Die Beine mit den schweren Hufen daran baumeln kraftlos in der Luft.
Ein zweites Mal presst der in Rage geratene Stier nun das Pferd an die Balustrade, wo es nicht mehr entkommen kann.
Er wühlt mit wetzenden Bewegungen seines Gestänges den Unterbauch des Pferdes ab, sucht mit seinen spitzen Hörnern eine freie Stelle in dessen Bauchdecke, um sie aufzureißen und sich so dem Störenfried zu entledigen.
Das ist der Moment, in dem der Picador zum ersten Mal die schwere Stahlspitze seiner Lanze tief in den Nacken des Stieres treibt.
Gleichzeitig formieren sich die Toreros erneut, rufen laut “He!”, schwenken ihre Capotes und lenken den Stier erfolgreich ab.
Wütend lässt er ab und stürzt sich in die Richtung, aus der er die Bewegungen wahrnimmt. 

In der Zwischenzeit positioniert der Picador sein Pferd neu für den zweiten Angriff.
Der erfolgt unmittelbar.
Dieses Mal trifft der Stier das Pferd nicht seitlich, sondern in einem spitzen Winkel schräg von vorn.
Ein Horn bohrt sich in die gepanzerte Flanke, das andere in die ebenso geschützte Brust.
Die Wucht ist enorm. Das Pferd wird zurückgeschoben, seine Hinterläufe knicken. Ein Sturz des Pferdes hätte tödliche Folgen haben können. 

Wieder rammt der Picador die Lanze in den Nacken des Stiers – ein zweites Mal, dann ein drittes –, bevor die Toreros den Stier erneut vom Pferd weglotsen. 

Der Picadore hat ganze Arbeit geleistet.
Seine Stiche haben dem Stier schwere Verletzungen zugefügt, die für den weiteren Verlauf des Stierkampfs entscheidend sind.
Er ist der wichtigste Helfer des Matadors.
Durch die tiefen Stiche in den Nacken verliert der Stier so viel Blut, dass er schwächer wird, mit jedem Schritt, mit jeder Bewegung.
Am Ende wird ihm die Kraft fehlen, den Kopf zu heben – Voraussetzung für den tödlichen Degenstoß.
Blutverlust und Schmerz führen oft zu einer leichten Desorientierung, beeinflussen Reaktionen und Bewegungsmuster.
Ohne diese vorbereitenden Verletzungen würde kein Matador einen Stierkampf überleben. 

 

Applaus brandet auf, als der Picadore mit seinem Pferd die Arena verlässt.
Auch die Toreros verlassen den Platz und begeben sich hinter die Schutzwände.
Zurück bleibt ein schwer verletztes Tier – ein zerschundenes Kunstwerk – das regungslos in der flirrenden Hitze verharrt.
Er steht da, als versucht er zu begreifen, was mit ihm geschehen ist. 

Zum ersten Mal in seinem bisher sorglosen Leben spürt er etwas, was er noch nie zuvor gespürt hat: Schmerz.
Und er riecht, was er noch nie zuvor gerochen hat: Blut. Sein eigenes Blut.
Dieser metallische Geruch und die Schmerzen irritieren ihn.
Und sie werden ihn noch aggressiver machen.

Er ist allein in der Manege.
Da – eine Bewegung.
Aus dem Augenwinkel nimmt er etwas wahr, das sich rasch nähert. Etwas Schmales. Etwas, das nicht weicht.
Er scheint überrascht und stutzt. Alles, was er kennt, hat bislang die Flucht vor ihm ergriffen. Jetzt kommt etwas auf ihn zugelaufen.
Explosionsartig stürzt er sich auf das zu, was auf ihn zukommt. 

Es ist der Banderillero. 
Mit federnden, eleganten Schritten läuft er auf das Tier zu.
In beiden Händen hält er eine rund 80 Zentimeter lange, bunt verzierte Banderilla – ein Holzstab mit scharfer Metallspitze und einem großen Widerhaken. 

Kurz bevor sie aufeinandertreffen, senkt der Stier den Kopf, um seine Hörner in den Unruhestifter zu stoßen. Doch der Banderillero weicht in letzter Sekunde seitlich aus. Mit seinem nach hinten gespannten Oberkörper schnellt er vor und stößt beide Banderillas tief in den Muskel zwischen den Schulterblättern.

Banderillera

Die Metallspitzen dringen ins Fleisch. Sie müssen tief sitzen, damit die Widerhaken Halt finden, starke Blutungen auslösen und das Muskelgewebe bei jeder Bewegung mehr und mehr aufbröseln. Unerträgliche Schmerzen sind die Folge.
Der Banderillero – ungeschützt, ohne Degen, ohne Capote – flüchtet sofort hinter die hölzerne Schutzwand, um der aufbrausenden Wut des Stiers zu entkommen.
Zwei weitere Banderilleros folgen, setzen vier weitere Banderillas.
Das Publikum honoriert ihren Mut und die Präzision, mit der sie die Banderillas in den Muskel gerammt haben, mit frenetischem Applaus.

Banderilleros genießen einen hohen Stellenwert innerhalb der Torero-Hierarchie – wegen ihrer akrobatischen Kunst, ihrer Todesverachtung, ihrer Ästhetik.
Ungeschützt laufen sie tänzerisch auf den Tod zu – eine Tat, die unter Kennern als Kunstwerk gilt. 

Zum zweiten Mal in seinem Leben begegnet der Stier an diesem Nachmittag einem Menschen zu Fuß. Das erste Mal, als er als Kalb die Ohrmarke bekam.
Züchter achten penibel darauf, dass ihre Stiere so wenig Kontakt wie möglich zu Menschen haben. Sie sollen den Menschen nicht kennen, nicht verstehen – nur als Feind erleben.
Eigentlich kennen sie Menschen nur auf Pferden. Zum Beispiel, wenn sie zur Impfung einmal im Jahr mit ihrer Herde durch einen schmalen Gang getrieben oder als Einjährige in einer kleinen Arena auf ihre Tauglichkeit als Kampfstier getestet werden.
Nur wer sofort mutig und unablässig angreift und sich nicht nach ein paar Stößen gelangweilt abwendet, bleibt am Leben. Gleiches gilt auch für die Kühe, die Muttertiere. Sie müssen eine ähnlich hohe Aggressivität an den Tag legen, sonst endet ihre Linie. 

Die Züchtung von Kampfstieren ist in jeder Phase lebensgefährlich. Wer mit ihnen arbeitet, weiß: Man muss genügend Abstand halten, keine hektischen Bewegungen machen und stets eine Fluchtmöglichkeit im Auge haben.

Er steht nun allein in dem großen Rund der Arena.
Die tiefen Lanzenstiche des Picadors haben eine große Blutung verursacht, die durch die sechs Banderillas in seinem Nacken verstärkt wurde. Schwer hängen die Spieße in seinem verletzten Fleisch. 

Hellrotes Blut fließt in kleinen Rinnsalen vom Nacken über die Schultermuskulatur hinab bis zu den Vorderfüßen. Seine Hufe stehen in kleinen Blutpfützen, die nur langsam im durchtränkten Sand versickern. 

Ein feiner, stetiger Harnstrahl läuft aus ihm heraus. Ein Zeichen für extremen Stress oder eine Verletzung des Rückenmarks oder der Nerven, ausgelöst durch die Lanzenstiche oder die Spieße.

Er muss unerträgliche Schmerzen haben und der Blutverlust macht ihm zu schaffen.
Das sieht man. Er atmet schnell und tief, wobei sich seine Flanken zügig heben und senken.
Herz und Lunge versuchen gemeinsam mehr Sauerstoff an das noch vorhandene Blut zu binden, damit die Muskeln und das Gehirn weiter funktionieren können.

Er wirkt verloren, so ganz allein in der Arena. Als dämmerte ihm, dass etwas Unumkehrbares geschehen ist. Dass es keine Rückkehr gibt, wenn nicht sofort etwas passiert.  Vielleicht ist es diese Einsicht, weshalb er mit müdem Blick die Barrera absucht, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden, der ihn nach Hause führt. 


Ein Stier dieser Gewichtsklasse kann bis zu 10 Liter Blut verlieren, bevor seine Kräfte vollends versagen. Diese Blutmenge hat er fast erreicht – verursacht in der
Tercio de Varas, der Phase der Lanze, und der
Tercio de Banderillas, der Phase der Spieße.

Nach 20 Minuten Kampfzeit muss sich der Matador beeilen – damit sein Stier nicht schon tot zusammenbricht, bevor er in jenem männlich überhöhten Gehabe, das als Arrogancia del torero bekannt ist, dem Publikum die vollkommene Eleganz seiner Bewegungen, seinen Mut, seine Herrschaft über den Stier und den Tanz mit dem Tod in einer finalen Inszenierung demonstrieren kann. 

Applaus von den Rängen. Erst zögerlich. Dann ein gewaltiges Rauschen, wie ein Flügelschlag tausender Vögel.
Der Matador betritt die Arena.
In der linken Hand hält er das rote Tuch – die Muleta. In der rechten den Degen – den Estoque.
Die letzte Phase beginnt: die Tercio de Muerte.
Der dramatische Höhepunkt der Corrida: die Suerte Suprema – das „höchste Schicksal“, in dem der Matador den Stier töten wird. Diese Phase ist der dramatische Höhepunkt.

Er schreitet stolz und würdevoll in die Mitte der Arena. Diese Handlung gilt als besonders mutig, denn sollte der Stier den Matador verletzen, haben seine Toreros die weiteste Wegstrecke zurückzulegen, um den Stier abzulenken.

Diese mutige Variante – und eine erfolgreiche Tötung- sichert dem Matador weitere Verträge und rechtfertigt sein Honorar für diesen Nachmittag in Höhe von schätzungsweise 100.000 €.
In der finalen Phase (Tercio de Muerte) widmet der Matador den Stier oft einer Person oder dem Publikum – eine symbolische Geste,  die seine Dankbarkeit oder Hingabe ausdrücken soll. Manchmal wird der Stier auch Gott oder der Jungfrau Maria gewidmet, wobei sich der Matador bekreuzigt.
Heute widmet er den Stier dem Publikum. Dazu nimmt er seine Montera (Hut) ab, hält sie mit am ausgestreckten Arm in die Höhe, schaut ins Publikum und dreht sich dabei einmal um die eigene Achse und wirft die Montera in den Sand.

Der Stier scheint das alles nur noch schemenhaft wahrzunehmen.
Nur noch schnelle Bewegungen reizen ihn zum Angriff. Und das weiß auch der Matador. Er weiß auch, dass er im Falle einer Kollision völlig still liegen muss, damit seine heraneilenden Helfer den Stier auf sich lenken. Auf gar keinen Fall darf er sich bewegen – jeder Fluchtimpuls könnte tödlich sein. So mancher in Panik geratene Torero hat das vergessen, als sich das spitze Horn in seinen Oberschenkel, seinen Genitalbereich oder Unterbauch bohrte.

Es ist still geworden in der Arena.
Der Matador steht reglos in der Mitte und fixiert den Stier.
Dann brandet Beifall auf.
Die Kapelle setzt ein in dem Moment, als der Matador mit lauten “He! He! He!” Rufen und dem Schwenken der Muleta (das rote Tuch, das kleiner und leichter ist als die farbige Capote) den Stier zum Angriff provoziert.
Das einst kraftvolle, stolze und mutige Wesen reagiert nicht mehr sofort. Der Blutverlust und die Schmerzen haben seine Unerschrockenheit, seine Aggressivität gebrochen. Er steht schwer atmend vor dem Matador und wirkt abwesend, in sich gekehrt, so, als hätte er akzeptiert, dass er sterben wird– seine Gefährten auf der Weide nie wiedersehen wird.
Während die Musik spielt und der Matador lauert, scheint er tief in sich den aufsteigenden Tod zu beobachten.

Der Torero steht jetzt vor ihm.
Einzig sein linker Arm mit der Muleta bewegt sich. Seinen Körper mit dem Degen in der rechten hält er starr. 
„¡He!, ¡He!,¡He!“, ruft er und stampft dabei publikumswirksam auf.
Der Stier bewegt sich nicht. Erst nach dem dritten oder vierten Mal senkt er endlich den Kopf zum Angriff und stürmt los und verfängt sich im Tuch.
Er wendet sich schnell, als er den Matador hinter sich erneut ein lautes „He!” rufen hört und stürzt sich erneut auf das Tuch, wieder und wieder.
Die Zuschauer begleiten jeden Angriff mit einem gedehnten „¡Olé!“. 

Der Stier wird langsamer und kraftloser. Dünne Blutrinnsale ziehen sich an seinem Körper hinab. Seine Zunge hängt aus dem Maul – ein Zeichen, dass der Zungenmuskel bereits unterversorgt ist. Ein klares Zeichen für das nahe Ende.

Jetzt vollführt der Matador die „La Molineta“ – die Windmühle, eine der spektakulärsten und riskantesten Techniken im Stierkampf, bei der sich der Matador wie ein Windrad um die eigene Achse dreht.
Der Matador steht seitlich zum Stier, die Muleta in der linken Hand, den Degen (Estoque) in der rechten.
Der Stier greift an.
Der Matador dreht sich mit großer Eleganz 360 Grad um die eigene Achse – wie ein Windrad – und der Stier folgt diesen Bewegungen.
Dabei verliert er kurzzeitig den Stier aus den Augen. Wird die Drehung zu früh oder zu spät ausgeführt oder knickt der Stier mit einem Vorderfuß ein, kann das dem Matador schwere oder tödliche Verletzungen zufügen. 
Das ist die letzte Chance für den Stier, sein Leben zu retten. 
Wenn er den Matador trifft, verletzt, außer Gefecht setzt — könnte er begnadigt werden und den Rest seines Lebens als Zuchtbulle in einer Herde mit Kühen verbringen.
Aber es gelingt ihm nicht. 


Die Blechbläser schmettern den Paso Doble in die Arena.
Der Matador steht nun frontal vor dem Stier und steht still.
Der Stier ist jetzt nahezu blutleer. Er wirkt desorientiert. Seinen massigen Kopf kann er nicht mehr aufrecht halten, hängt nach unten und gibt die handbreite Fläche zwischen den Schulterblättern frei, in die der Matador seinen Degen stoßen wird. Die Zunge berührt fast den Boden. Er hechelt schnell und nur noch wenig Blut fließt aus seinen Wunden.

Der Matador hebt den Degen auf Schulterhöhe.
Er verlagert das Gewicht auf das linke Bein, lässt die Muleta fallen und 
stößt vor – ein einziger, schneller Schritt – und treibt den Degen tief in das Tier.

Der Stier rührt sich nicht. Noch nicht.

Der Matador bleibt vor dem Stier stehen und mustert ihn publikumswirksam.
Dann ein röchelndes Gurgeln. 
Dunkelrotes, fast schwarzes Blut quillt in einem großen Schwall aus Maul und Nase.
Jetzt erst – endlich – fällt der Stier auf die Seite.  

Die Menge applaudiert und der Matador nimmt seine Siegespose ein. 

Er steht tief im Hohlkreuz, die Brust gewölbt, der Arm lang ausgestreckt, zeigt zum Publikum. Er dreht sich langsam – eine Geste des Triumphs, des

 „Sieges über den Tod“.


Der Stier hinter ihm ist noch nicht tot. Die Augen weit aufgerissen, liegt er röchelnd im Sand. Er erstickt.
Der Degen hat weder die Hauptschlagader noch das Herz getroffen, nur die Lunge zerteilt.
Ein Helfer kommt herbeigeeilt. Mit einem kurzen Dolch durchtrennt er das Rückenmark. Ein unbeschwertes, freies Leben in unberührter Weite, umgeben von vertrauten Gefährten und einem vorzüglichen Nahrungsangebot, ist heute Nachmittag zu Ende gegangen. 

Drei Pferde schleifen den Stier aus der Arena, während der Matador seine Runde dreht und sich vom Publikum dafür feiern lässt, dass er ein fast totes Tier ganz tot gemacht hat.
Er hält die ihm zugesprochenen Ohren in der ausgestreckten Hand und schreitet stolz an der Balustrade entlang, aus der Blumensträuße, Sitzkissen und vereinzelt auch Frauenunterwäsche geflogen kommen.

An der seidenen, rosafarbenen Strumpfhose und den schwarzen „Zapatillas“, die den Ballerinas ähneln, haftet das Blut des Getöteten – ebenso an dem hautengen Lichteranzug (Traje de Luces), in dem das männliche Geschlechtsteil deutlich hervorgehoben wirkt.
Es ist keine Zurschaustellung, sondern eine symbolische Aufladung, die für Mut stehen soll. „Tener cojones“ – Eier haben – ist tief in der spanischen Kultur verankert.

Dass so mancher Torero mit Attrappen arbeitet, um sein Geschlecht größer wirken zu lassen, wird allseits bestritten.
Dass es dennoch vorkommt, hat der Matador im letzten Kampf unfreiwillig bewiesen:
Seine Attrappe löste sich im Eifer des Gefechts und endete als dicke Beule kurz über dem Knie. 

Auf die Frage eines Freundes, wie ich mich entscheiden würde, sollte ich je vor die Wahl gestellt werden, als Mastrind oder als Kampfstier wiedergeboren zu werden, antwortete ich ohne zu zögern: „Als Kampfstier.“