Das Laborergebnis Ihrer Darmspiegelung liegt vor, Frau Meyer.
Ich sitze im Wartezimmer meines Hausarztes und sehe meine Nachbarin, Frau Meyer, am Empfangstresen stehen. Mit leiser Stimme beantwortet sie die Fragen der Arzthelferin. Frau Meyer ist Mitte fünfzig, hat rot gefärbte Haare, ist ledig und stets tadellos gekleidet. Auch heute trägt sie wieder Stöckelschuhe, ohne die sie nie das Haus verlässt. Ihr aufrechter Gang in Verbindung mit ihrer distanzierten Art uns Mietern gegenüber haben ihr den Ruf eingebracht, etwas hochnäsig zu sein.
Wie ich dem Gespräch am Empfangstresen entnehmen konnte, hatte sie anscheinend kürzlich eine Darmspiegelung, bei der offensichtlich etwas „gefunden” wurde, was eine Laboruntersuchung erforderlich machte. Der Befund scheint nun eingetroffen zu sein, weshalb sie heute in die Praxis einbestellt wurde.
Hoffentlich nichts Schlimmes, dachte ich, vielleicht nur ein paar gutartige Polypen oder Divertikel. Vielleicht ist es aber auch eine Entzündung oder eine Infektion, ausgelöst durch Viren oder Bakterien? Hoffentlich ist es kein Krebs. Analkrebs zum Beispiel, wie bei der Schauspielerin Farrah Fawcett, die daran gestorben ist. Es stand in allen Zeitungen.
»Guten Morgen«, begrüßte sie mich mit gedämpfter Stimme, als sie auf der anderen Seite des Wartezimmers Platz nahm. Es war ihr anzumerken, wie unangenehm ihr die Begegnung mit mir war.
»Guten Morgen, Frau Meyer«, antwortete ich.
Gott sei Dank findet sie in mir einen diskreten Mieter, der nicht gleich alles im Haus herumerzählt. Nicht lange, und die ganze Straße wüsste, dass „die Meyer” irgendwas am Po hat.
Es geht mich auch gar nichts an. Gar nichts! Aber was sollte ich tun? Ich bin unfreiwillig Zeuge eines Vorgangs geworden, der sich täglich tausendfach an den Rezeptionen der Arztpraxen abspielt. Tagtäglich wird gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen, die die Privatsphäre des Patienten schützen soll. Es verpflichtet die Ärzte, alle Informationen, die sie im Rahmen ihrer Behandlung erhalten, vertraulich zu behandeln und nicht an Dritte weiterzugeben. Diese Verpflichtung zur Verschwiegenheit beginnt bereits an der Eingangstür der Praxis, gilt für alle Räumlichkeiten und beschränkt sich nicht nur auf die Behandlungs- und Arztzimmer. Diesbezüglich gibt es keinen Interpretationsspielraum.
Und erst recht gibt es keine Ausnahmeregelung für die Rezeption. Unüberhörbar wird vor aller Ohren nach dem Grund des Arztbesuches gefragt, werden Medikamente benannt oder Ergebnisse von Laboruntersuchungen besprochen. Das sind alles Informationen, die Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der befragten Person zulassen. Das aufgestellte Schild mit der Aufschrift “Diskretion. Bitte Abstand halten” ist ein Witz und ein billiger Versuch des Praxisteams, Verantwortungsbewusstsein in Sachen Privatsphäre zu suggerieren.
Auch ein leises Sprechen zwischen Arzthelferin und Patient würde die Privatsphäre nicht schützen. Ein Flüstern in ruhiger Umgebung, wie er im Eingangsbereich einer Praxis üblich ist, wäre erwiesenermaßen noch in 5 bis 10 Metern Entfernung zu hören.
Aber wer flüstert schon?
Das einzige, was die Privatsphäre des Patienten schützen könnte, wäre eine Trennwand mit einer Tür darin.
Als Frau Meyer aufgerufen wurde und sie mit leicht geröteten Wangen auf den im Türrahmen wartenden Arzt zutippelte, wünschte ich ihr inständig, dass der Laborbefund nichts Schlimmes enthält.