Hören Sie gefälligst auf, mich wiederzubeleben

Finger weg!
Was fällt Ihnen ein?
Sehen Sie nicht, dass ich mich bereits eingenässt habe?
Ich bin tot und mache mich gerade auf den Weg ins Jenseits.
Und grinsen Sie nicht so blöd in die Kamera, während Sie ein Selfie mit mir machen!

Haben Sie sich überhaupt erkundigt, wie lange ich hier schon so rumliege?
Wie viele Minuten mein Gehirn bereits nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird?
Haben Sie keinen Skrupel, dass ich bereits hirntot sein könnte und Sie durch Ihre überflüssige Hilfe – gegen meinen Willen – dafür sorgen, dass ich künftig liegend im Bett verbringe, den ganzen Tag an die Decke starre, während mir ständig der Sabber in einem dünnen Rinnsal aus dem Mundwinkel läuft und ich mich zum x-ten Mal einkote?
Oder dass ich nach Ihrem – leider erfolgreichen – Eingreifen in meine Privatsphäre das Sprechen oder Laufen neu erlernen muss?

Ich will das nicht!
Wollen Sie das?
Interessiert Sie die Frage überhaupt?
Oder ist es Ihnen völlig egal, in welchem Zustand ich mich nach Ihrer Intervention befinde?
Leiden Sie unter ADS?

Sehen Sie mich an, junger Mann.
Ich habe mein Leben bereits gelebt. Und ich versichere Ihnen: Es war ein schönes Leben.
Rechtzeitig zu meiner Pubertät wurden die Pille erfunden. Und der Minirock. Und die Kellerfeten mit Eierdeckeln an der Wand. Eine Symbiose der Lust.
Die Musik kam von Elvis, den Beatles, den Stones. Flower Power. Make love, not war. Woodstock.
Ich habe in einer Woche mit mehr Frauen geschlafen, als Sie in Ihrem ganzen Leben noch nicht.
„Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“, war der Slogen jener Zeit.
Schon mal was davon gehört?
Sie glauben mir nicht?
Dann fragen Sie mal Ihren Opa oder Ihre Oma. Und achten Sie auf ihre Augen, wie sie zu glänzen anfangen.
Herrliche Zeiten war das.

Und die Winter waren schneereich, die Sommer heiß.
Wir fingen im Bach Forellen, trampten kreuz und quer durch Europa und in den Semesterferien fuhren wir im VW-Bus nach Kabul.

Hören Sie: Meine Kinder sind erwachsen. Meine Frau liebt einen anderen.
Ich stehe jeden Morgen mit schmerzenden Gliedern auf und gehe jeden Abend mit schmerzenden Gliedern ins Bett.
Heute nicht.
Heute liege ich hier – und alles ist vorbei.

Also nehmen Sie gefälligst Ihren Handballen von meinem Brustbein. Vor Ihnen liegt ein Organspender, der noch heute jemandem große Freude bereiten wird.
Und halten Sie die beiden Gören hinter sich in Schach. Die sehen aus, als hätten sie erfolgreich einen Erste-Hilfe-Kurs besucht und sehen in mir die einmalige Chance auf mehr Follower.
So, ich mach` mich jetzt vom Acker.