Eine Weihnachtsgeschichte
Als es in Hamburg plötzlich keine Tauben mehr gab.
Es geschah im frostigen Dezember des Jahres 1854.
An einem sonnigen Vormittag brach sich die Mutter des Stadtkämmerers Hansen just den Oberschenkel, als sie auf zentimeterdicken, durch feinen Nieselregen rutschig gewordenem Taubenkot ausrutschte und hart auf das Kopfsteinpflaster aufschlug.
“Diese verdammten Tauben”, fluchte der Stadtkämmerer, “man sollte sie beseitigen, alle miteinander.”
Mit dieser Meinung war er nicht allein.
Die Tauben waren tatsächlich zur Plage geworden. Sie waren überall und ihr Kot hing pfundweise an Fassaden, Laternen und Denkmälern. Ein kurzes Rascheln einer Papiertüte genügte, um eine Invasion gurrender Girrvögel auszulösen, die jede Bewegung der Hand mit ihren starren Glubschaugen akribisch verfolgten. So manches Kleinkind verschwand plötzlich unter einem Schwarm dutzender Federviecher, nur weil ihm ein paar Krümel auf den Bauch gefallen waren.
An Sonntagen war es keine Seltenheit, dass die hübsch zurechtgemachten Jungfern auf dem Jungfernstieg in Begleitung ihrer Eltern vorzeitig unter Tränen die Flaniermeile verlassen mussten, weil ihnen ein Schwarm Tauben von hoch oben mitten hinein in die Hochfrisur gekackt hatte.
Niemand fühlte sich sicher, in dieser Zeit.
Wie kommt man der Taubenplage bei?
Aber wie sollte man sich der Tauben entledigen? Einfangen konnte man sie nicht, dazu waren es zu viele, und vergiften ging auch nicht, wegen der anderen Vögel. Erschießen war zu teuer, zu laut und aufgrund drohender Querschläger zu gefährlich. Auch Falken konnte man nicht einsetzen, da sie sich auf Katzen ebenso stürzen würden, wie auf kleine Hunde, deren dünne Leinen mit porzellanzarten Handgelenken bourgeoiser Damen verbunden waren. Diese könnten beim plötzlichen Entreißen ihres Vierbeiners aus adliger Qualzucht womöglich Verletzungen hervorrufen, die der Stadt teuer zu stehen kommen würden.
Mit diesen Gedanken ging er zu Bett.
Er schlief unruhig in dieser Nacht. Nicht nur wegen der Tauben. Auch, weil seine Frau mit ihm kuscheln wollte im warmen Federbett, aber sein Kuschler sich mal wieder nicht einen Zentimeter vorwärts bewegen wollte.
Das und die Tauben beschäftigten Stadtkämmerer Hansen auch noch am nächsten Morgen auf dem Weg ins Rathaus.
Während er am Schreibtisch saß und überlegte, ob er nach dem Kammerjäger schicken sollte, um mit ihm das Taubenproblem zu besprechen, schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Der war so genial, dass ihm vor lauter Schreck die Augen wie Billardkugeln aus den Höhlen sprangen. Er war sich sicher; diese Idee würde das Problem ein für alle Mal lösen.
Die Hamburger Taubenplage würde der Vergangenheit angehören. Und diesen Erfolg würden ihm die Bürger danken und ihn zum Bürgermeister machen.
Die Idee
Er ließ seine stets schnaubenden, weil schwergewichtige Schreibkraft kommen – das geschwätzigste Weib in ganz Hamburg – und diktierte ihr eine fingierte Aktennotiz mit dem Inhalt, dass ein chinesischer Arzt ihm ein uraltes Geheimnis verraten habe: Taubenfleisch sei das beste Potenzmittel auf der ganzen Welt.
Es vergingen keine zwei Wochen, bis das Gerücht Wirkung zeigte: Man sah immer häufiger Frauen, die Jagd auf Tauben machten. Und Woche für Woche wurden es mehr.
Zu Hause beköstigen die Ehefrauen erwartungsvoll ihre ahnungslosen Männer mehrmals in der Woche erwartungsvoll mit frisch gefangenem Taubengulasch.
Die Prostituierten taten es ihnen gleich und boten das gebratene und in Streifen geschnittene Fleisch zu horrenden Preisen ihren Freiern an.
Und zu Weihnachten gab es in diesem Jahr weder Karpfen, noch Gans, noch Kartoffelsalat mit Würstchen. Es gab ….. genau, Taube!
Im Januar 1855 war Hamburg nahezu taubenfrei. Weit und breit waren keine Tauben mehr zu sehen; sie hatten schnell dazugelernt. Die wenigen Überlebenden verschanzten sich unter dem Dachsims. Aber auch hier wurde ihnen mit Netzen an langen Stangen nachgestellt.
Die Preise für Hamburger Stadttaube” erreichten auf dem Schwarzmarkt Höchstpreise.
Anfang Februar ebbte der Boom ab, als sich die Freier auf der Reeperbahn bei den Damen über die ausbleibende Wirkung beschwerten. Es folgten die Marktfrauen, die zu dem gleichen Ergebnis gekommen waren wie auch die Ehefrauen. Ab sofort stand wieder Labskaus auf den Tischen.
Doch das Gerücht hält sich hartnäckig: Bis heute stehen in der gehobenen Gastronomie Tauben auf dem Speiseplan.