Die Tauben vom Jungfernstieg
Alle drei Monate fahre ich zum Einkaufen in die Hamburger Innenstadt. Dabei ist es mir zur lieben Gewohnheit geworden, anschließend im Alsterhaus Restaurant im obersten Stockwerk ein Stück Torte zu genießen. Gestern war das allerdings nicht möglich. Die Rolltreppen ab der 3. Etage waren außer Betrieb und nur der Fahrstuhl stand zur
Verfügung, vor dem sich eine endlose Schlange gebildet hatte, in die ich mich nicht einreihen wollte. Stattdessen suchte ich eine nahegelegene Bäckerei auf, kaufte mir ein Stück Streuselkuchen und setzte mich auf eine der Stufen am Jungfernstieg mit herrlichem Blick auf die Binnenalster. Kaum hatte ich die Tüte mit dem Kuchen aus meinem Rucksack geholt, tippelten im Eiltempo aus allen Richtungen – von vorne, von links, von rechts, von hinten – Scharen von grauem Federvieh auf mich zu und versammelten sich ungefragt vor meinen Füßen.
Aufdringliches Verhalten mag ich nicht und außerdem wollte ich an diesem schönen, warmen Sommertag in Ruhe meinen Kuchen genießen, was bei dem ständigen Gurren und dem Herumhummeln um meine Füße nicht möglich war.
Also beschloss ich, dem aufdringlichen Federvieh klarzumachen, dass es bei mir nichts zu holen gibt.
Ein heftiger Zischlaut kombiniert mit einer pfeilschnellen Handbewegung sollte dem Szenario ein Ende bereiten. Sollte! Während Artgenossen in Ottensen oder anderen Hamburger Stadtteilen spontan die Flucht ergriffen hätten, zeigten sich die Tauben am Jungfernstieg völlig unbeeindruckt. Völlig! Keinen Zentimeter wichen sie zurück. Stattdessen schauten sie mich mit ihren kleinen, braunen
Taubenkugelglupschaugen verständnislos an, so wie man jemanden anschaut, der einem Durstigen mitten in der Wüste einen Schluck Wasser verweigert.
“Geht’s noch, ihr aufdringlichen Schnorrer?”
Wenn es nicht im Guten geht…
Ich stampfte mit dem Fuß fest auf den Steinboden. Diesmal zeigte es Wirkung. Die Federviecher wichen zurück, aber nur für einen kurzen Moment, um im nächsten Moment wieder die alten Positionen einzunehmen. Mehrfache Wiederholungen zeigten immer wieder den gleichen Effekt. Wie die seichten Wellen des Meeres immer wieder an den Strand zurückkehren, so kehrten auch die Tauben immer wieder in den Umkreis meiner Füße zurück, bis ich schließlich aufgab. Nicht wegen der Tauben, nein, wegen der bösen Blicke meiner um mich herum sitzenden Mitmenschen, die mich eindeutig als Tierquäler ansahen. Die typische Täter-Opfer-Umkehrung.
Ich musste mir etwas Neues einfallen lassen, um diese penetranten Belagerer loszuwerden. Etwas mit großem Erfolgspotenzial. Schließlich gehöre ich evolutionär gesehen zur “Krone der Schöpfung”. Allein diese unbestreitbare Tatsache verpflichtet dazu, sich von so einem genügsamen, einfachen Federvolk keine Verhaltensweisen aufzwingen zu lassen. Wo kämen wir denn da hin?
Um nun die ungeteilte Aufmerksamkeit der Schar grauer Federknäule zu erhalten, entfaltete ich geräuschvoll die Papiertüte auf meinem Schoß und riss die Vorderseite unüberhörbar entzwei, bis hinunter auf den Boden.
Sofort gesellten sich wieder im eiligen Tempo weitere Tauben hinzu, in Erwartung eines bevorstehenden Festmahls. Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte: Ich imitierte, den Kopf nach hinten in den Nacken geworfen, gellend den spitzen Schrei eines herabstürzenden Falken, den ich auf einer ornithologischen Wanderung zusammen mit anderen geübt hatte. Jede (!) Taube auf der Welt würde beim Anflug ihres Todfeindes panisch die Flucht ergreifen oder zumindest in Schockstarre verfallen, wie die Tauben in Ottensen oder anderen Hamburger Stadtteilen. Nicht so die Tauben vom Jungfernstieg; sie schauten sich gegenseitig leicht irritiert an, ebenso wie die herumsitzenden Menschen um mich herum, einschließlich der Kapitäne der am Kai vertäuten Alsterdampfer.
Okay, ich musste unauffälliger sein. Verstanden.
Demonstrativ, für alle braunen Taubenaugen gut sichtbar, hob ich die Papiertüte so bedeutungsvoll in die Höhe, wie es Priester mit ihren Opfergaben tun, um sie gleich darauf tief in meinen Rucksack abzulegen, damit jede einzelne Taube begriff, dass es hier nichts mehr zu holen gab und von mir abließ. Um das Signal zu verstärken, schlug ich entspannt die Beine übereinander, verschränkte die Arme vor der Brust und ahmte das angetackerte Dauerlächeln meiner Yogalehrerin nach, während ich regungslos auf die Alsterfontäne starrte.
Und tatsächlich: Innerhalb kürzester Zeit löste sich die Versammlung zu meinen Füßen in allen Himmelsrichtungen auf. Einige der Tauben machten einen verwirrten Eindruck, andere schienen verärgert zu sein, was meine Befürchtung nährte, die Obertaube könnte mir aus puren Frust auf den Kopf fliegen und mir ein Kaka auf die Schulter machen, was Gott sei Dank nicht passierte.
Erleichtert und mit dem Gefühl eines großen Sieges fluteten Glückshormone meinen Körper. Und Glück macht hungrig. Also beugte ich mich zu meinem Rucksack hinunter, nahm das Stück Streuselkuchen auf und gönnte mir einen kräftigen Bissen.
Im Eiltempo tippelten aus allen Richtungen – von vorne, von links, von rechts, von hinten Scharen von grauen Federvieh-Tauben auf mich zu und versammelten sich erneut direkt vor meinen Füßen.
Jede Taube auf der Welt würde bei Verlust einer Nahrungsquelle sofort von dannen ziehen oder sich, wie die Tauben in Ottensen oder in anderen Hamburger Stadtteilen, eine neue Nahrungsquelle suchen. Nicht so die Tauben vom Jungfernstieg, die reagieren – als einzige Vogelart auf der ganzen Welt – auf leichteste Kaubewegungen, die sofort eine neue Belagerung auslösen, wohl wissend: “Wer kaut, trägt Nahrung mit sich!”
Nun gut. Dann ist es ebenso so. Man ist ja nicht blöd. Also verfiel ich abermalig in meine Bewegungslosigkeit, starrte auf die Alsterfontäne, bis die Luft – und der Boden – frei von jeglichem Federvieh war.
Erst dann bewegte ich mich langsam, sehr langsam, hin zu meinem Rucksack und tauchte meinen Kopf tief hinein in das dunkle Schwarz, um unbemerkt ein Stück Streuselkuchen abzubeißen. Ich spürte förmlich die fragenden Blicke der – nicht kauenden – Menschen, die um mich herum saßen, aber das war mir egal. Zurück im Tageslicht verharrte ich wie gehabt in totaler Bewegungslosigkeit, den Blick starr auf die Alsterfontäne gerichtet und wartete geduldig ab, bis genügend Speichel den Teig in meinem Mund getränkt hatte und ich mit langsamen, kaum sichtbaren Kaubewegungen den Schluckvorgang vorbereiten konnte. Beim Herunterschlucken hielt ich mir vorsichtshalber die Handinnenfläche vor den Hals. Wer weiß, vielleicht reagieren diese Viecher auch auf Schluckbewegungen.
Nach einer Weile – die Sonne senkte sich bereits am Horizont – hatte ich meinen Kuchen endlich aufgegessen und trat vergnügt den Heimweg an.
Nicht, dass mich dieses Erlebnis in irgendeiner Weise nachhaltig beschäftigt hätte. So war der Traum in der folgenden Nacht reiner Zufall, in dem ich den Sommer-Dom besuchte und statt der Fahrgeschäfte sich kilometerlang nur rote Doppeldecker-Imbisswagen aneinander reihten, auf deren unzähligen Bratspießen sich Abertausende gebratener Jungfernstieg-Tauben drehten.