Beobachtungen aus dem Vogelnest. Teil 4:

Die Single-Börsen sind schuld.

Ihr müsst wissen, ich lebe in einer Dachgeschosswohnung, meinem Vogelnest, wie ich sie  nenne. Und ich arbeite von zu Hause aus an einem höhenverstellbaren Schreibtisch, der  direkt am Fenster steht. Dadurch bekomme ich zwangsläufig so einiges mit, was sich unten auf der Straße abspielt oder in meiner unmittelbaren Umgebung, ob ich will oder nicht. 

Zum Beispiel weiß ich, dass ein kohlrabenschwarzes Amselmännchen am höchsten Punkt einer Eiche auf einem dünnen Ast morgens und abends kräftig in alle Richtungen zwitschert und dass sich die Wildtauben tagsüber in der Mitte einer Lindenbaumkrone aufhalten, während sie nachts die Birken hinter dem Haus bevorzugen. Vielleicht deshalb, weil Birkenäste filigraner sind und somit Erschütterungen durch heranschleichende Katzen oder Marder besser übertragen. Ich weiß auch, zu welchen Uhrzeiten Kohlmeisen, Spatzen und Blaumeisen zur Nachtruhe in welches Gebüsch fliegen. 

Ich habe Kinder gesehen, denen man das Fahrradfahren beigebracht hat, und sehe sie heute, wie sie ihre Motorroller unten auf der Straße abstellen. Ich habe mitverfolgt, wie Menschen älter geworden sind und … gebrechlicher. Bei einigen fing es an mit einem unrunden Gang, der irgendwann durch einen Gehstock Entlastung bringen sollte, bis der Stock durch einen Rollator ersetzt wurde. Und während der Coronazeit sah ich Sanitäter, die Menschen aus ihren Wohnungen holten, von denen nicht alle zurückgekommen sind. Sogar die neueste Mode bekomme ich von hier oben mit. Zurzeit trägt die Jugend, die, wie ich gelesen habe, auf Einzigartigkeit und Individualität großen Wert legt, kollektiv weiße Turnschuhe. In meiner Generation waren Parkas angesagt. 

Worüber ich aber eigentlich berichten will, sind diese Spezies von Berufspendlern, die nach der Arbeit nicht etwa in der Straße parken, in denen sie wohnen, sondern um die Ecke, in meiner Straße! Und sie steigen dann auch nicht aus, wie man es erwarten könnte. Nein, diese Spezies bleibt erst einmal in ihren Autos sitzen, um ‘stundenlang’ zu telefonieren oder zu simsen, bevor sie endlich aussteigen und den Nachhauseweg einschlagen, der, wohlgemerkt, länger ist, als wenn sie vor ihren Häusern geparkt hätten.  

Was ist der Grund für dieses atypische Verhalten? Ist der Handy-Empfang in der Wohnung schlecht? Oder stören Handwerker oder schreiende Kinder? Eine Abhör-Paranoia ist es sicherlich nicht? Alles eher unwahrscheinlich. Oder telefonieren sie in ihren Autos, weil alle Geheimnisträger sind, die per Gesetz dazu verpflichtet sind, nicht von zu Hause aus zu telefonieren? Das könnte eine Erklärung sein, leben doch alle in einer Beziehung. Ich weiß das, weil ich sie zwangsläufig bei gemeinsamen Einkäufen oder sonntäglichen Spaziergängen sehe. Aber das sind doch keine Spione oder Kriminalbeamte, Richter, Steuerfahnder, Staatsanwälte, Gerichtsvollzieher? Erstens sehen sie nicht so aus, zweitens ist es unwahrscheinlich, dass die alle ausgerechnet bei mir um die Ecke wohnen. 
Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es etwas zu verbergen gibt, was der Lebenspartner nicht wissen soll. Folglich kann es sich nur um Untreue handeln! Da bin ich mir sicher. Emotionale, physische, virtuelle oder geistige Untreue – was weiß ich, geht mich auch nichts an. Aber eines ist sicher: Die in ihren Autos und die kontaktierte Person am anderen Ende der Leitung haben bereits, planen oder wären empfänglich für “Ein Nickerchen auf der Nensterbank”, um ein unverfängliches Synonym für alle Varianten von Lug und Trug zu verwenden.  

Verstärkt wird meine Vermutung durch die Tatsache, dass das gleiche Verhalten bei einigen, nicht bei allen, bereits morgens seine Fortsetzung findet. Unmittelbar nachdem sie in ihre Autos gestiegen sind, wird erst einmal das Handy gezückt. Hör mir auf.
Wahrscheinlich ist liegt es an der Vielzahl von Kontaktmöglichkeiten, die das Internet bietet.’
Es gibt sogar Apps, die einem anzeigen, welche Personen in meiner unmittelbaren Umgebung flirtbereit sind. Wahnsinn. Die armen. Viele werden so enden wie der Esel, der zwischen zwei duftenden Heuhaufen elendig verhungert ist, weil er sich nicht entscheiden konnte. In meiner Jugendzeit hatten wir auch eine Single-Börse, die städtische Badeanstalt.
Zurück zum Thema.

Nein, es sind nicht nur Männer, die in ihren Autos mit weiß Gott wem Kontakt haben. Es sind auch Frauen darunter. Die Anzahl der Im-Auto-Sitzender variiert. In der Regel sind es sechs bis acht, in den Wintermonaten. Im Sommer etwas weniger. Manche beobachte ich nur über eine kurze Zeitspanne, ein oder zwei Monate. Andere treiben es länger. Der Durchschnitt liegt zwischen vier und acht Monaten, bevor neue in mein Visier geraten. Bis auf eine Ausnahme.
Herrgott habe ich diesen Typen gefressen!
Nicht, weil er, untypisch für einen Mann, ein kleines hellblaues Mazda-Cabrio fährt, nicht größer als ein Baumarkt-Einkaufswagen. Und auch nicht, weil er mit seinen kanariengelben Haaren und der Fönkante in der Frisur Donald Trump ähnelt, sondern weil er seine Flirterei bereits seit eineinhalb Jahren betreibt und, das ist besonders perfide, sich sogar nachts aus dem Hause schleicht (!!!), um in seinem hellblauen Kinderauto zu telefonieren, während seine Frau bereits zu Bett gegangen war.
Woher ich das weiß? Weil ich von meinem hinteren Zimmer aus die Rückseite des Hauses einsehen kann, das im rechten Winkel zu meinem steht und in dem die beiden im fünften Stock wohnen.
Durch den vernachlässigten, weil selten genutzten Balkon hindurch habe ich spitzwinkligen, eingeschränkten Blick in das Wohnzimmer und in die Küche.
Es ist fast immer der gleiche Ablauf: Abends sitzt sie am Küchentisch vor ihrem PC oder liest, während im Wohnzimmer zeitgleich der Fernseher läuft und die Fönkante irgendwo im Raum – von meinen Blicken nicht zu erfassen – bräsig auf einem Sofa herumlümmelt, sich mit der einen Hand die rotblond behaarte Wampe kratzt, während die andere gelangweilt in kreisenden Bewegungen eine Chipstüte durchwühlt. Irgendwann, meist gegen 23 Uhr, geht in der Küche das Licht aus, kurz darauf auch im Schlafzimmer. Für die schwabbelige Fönkante heißt es dann: “It’s Showtime”.

Ich muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich meine Beobachtungen zu diesem Thema über mehrere Monate erstrecken und hier im Zeitraffer dargestellt sind.
Nicht, dass ihr denkt, ich hätte nichts anderes zu tun, als zwischen meinen Zimmern hin und her zu laufen, um Nachbarn zu beobachten.
Obwohl, die Fönkante ist schon ein besonderer Fall, die meine Aufmerksamkeit tatsächlich mehr in Anspruch genommen hat.
Wie der seine Frau hintergeht! Unglaublich! Denn SIE scheint wirklich eine ganz Nette zu sein, eine ganz eine Nette. Ich sehe sie oft samstags auf dem Wochenmarkt. Sie ist eher klein und erinnert mich mit ihrer Frisur an Mireille Mathieu (die Älteren erinnern sich, die Jüngeren müssen googeln). Immer ein freundliches Lächeln im Gesicht, immer ruhig in ihren Bewegungen, irgendwie sympathisch. Wahrscheinlich arbeitet sie bei der nahegelegenen  Techniker Krankenkasse. Jedenfalls habe ich sie irgendwann einmal vor Geschäftsbeginn in das Gebäude hineingehen sehen. Das war kurz vor neun Uhr (die Fönkante verlässt die Wohnung gegen 8 Uhr). Zu Hause ist sie dann immer so um 16 Uhr herum. 


Wenn sie wüsste, was ich weiß! Aber warum eigentlich nicht? Warum sollte sie nicht wissen, was ihr Mann in seinem überdachten Einkaufswagen so treibt? 


Es war der 10. April, kurz nach 23 Uhr. In dem Moment, als das Displaylicht sein teigiges Gesicht erhellte und er aussah wie eine Wasserleiche, drückte ich von schräg vorne auf den Auslöser. Drei Tage später noch einmal um 17.15 Uhr und am 24. April das letzte Mal um 23.30 Uhr.
Den Stick samt Umschlag steckte ich nachmittags in ihren Briefkasten. 

Kurz darauf flog ich nach Fuerteventura, wo ich jedes Jahr mehrere Wochen verbringe.
Kürzlich, in der dritten Juni-Woche, kehrte ich zurück und blickte von meinem hinteren Zimmer auf einen wunderschön begrünten Balkon im fünften Stock, auf dem sich zwei Frauen sichtlich amüsiert unterhielten. Die eine sah aus wie Mireille Mathieu.
Das hellblaue Kinderauto und die Fönkante habe ich nie wieder gesehen.

Irgendwie fühle ich mich ein bisschen wie Robin Hood. Der Vergleich hinkt, ich weiß. Aber was soll ich machen?