Tango for Soul
DIE BEIDEN
Ach war das schön, den beiden zuzusehen.
Am Wochenende saß ich ziemlich gelangweilt in einer Milonga.
War viel zu früh da.
Draußen stickend heiß.
Drinnen wenig los.
Ausnahmslos Frauen, die obenrum nur „Close Embrace“ tanzten und untenrum nur kleinen geführte Schrittfolgen folgten.
Nein, danke. Keine Lust. Zu heiß.
Nach einer weiteren Stunde war die Milonga mit Besuchern gut gefüllt.
Ein guter Bekannter betrat die Tanzfläche. Sein Tanzstil, eher unkonventionell, aber vielschichtig:
Enge Haltung, weite Haltung.
Kleine Schritte, große Schritte.
Ein großes Repertoire an Schrittfolgen und Figuren machte ihn zu einem beliebten Tänzer.
Im Arm hielt er eine schlanke, braungebrannte Frau mittleren Alters, braune schulterlange Haare mit Pony-Frisur.
Sie trug ein ärmelloses hellblaues, kurzes Kleid, welches gut zu ihren blauen Augen passte und zusätzlich ihre schlanken Beine zur Geltung brachte. Der Rock war unten weit geschnitten, also ideal für Sacadas, Volcadas etc. und nicht so hauteng, wie es häufig Frauen auf Milongas tragen, die von der Existenz einer Sacada anscheinend noch nie etwas gehört haben.
DER TANZ
Nun tanzten sie schon seit über einer Stunde ohne Unterlass.
Er total verschwitzt, klitschnass. Sein Hemd mit den kleinen Blüten darauf klebt am Körper wie eine Tapete. Er hat es weiter aufgeknöpft, auf mehr Kühlung gehofft, umsonst. Hemd wechseln wäre unsinnig. Nach 10 Metern wäre das neue ebenso durchnässt.
Auch sie schwitzt. Unaufhörlich laufen ihr kleine Rinnsale von Schweiß über Wangen, Hals, Brustkorb und Beine hinab bis in die Schuhe.
Sie war erschöpft, aber glücklich gewesen. Das sah man an ihrem Gesicht und an der Haltung.
Soeben hatte er ihr die Achse genommen und sie in eine Colgada geführt. Völlig entspannt legte sie ihr ganzes Gewicht vertrauensvoll in seinen Arm und ließ gleichzeitig den Kopf in den Nacken und beide Arme nach unten fallen.
Sie genießt die Drehung in vollen Zügen. Sie genießt alles, was er führt. Auch die Pausen.
Besonders die Pausen.
Sobald ihre Körper stillstanden, schien es, als würde die Musik die beiden noch mehr vereinnahmen und davontragen hinauf ins Nirwana.
Jetzt, im Stillstehen ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass zwei Tangoseelen zu einer verschmelzen. Ein seltener und gewaltiger Augenblick zugleich, denn in diesem Moment fühlt man sich eins mit dem Partner. Sogar die Atemzüge gleichen sich an.
Beide hatten die Augen geschlossen, atmeten schwer,
hielten sich innig umarmt. Sie lächelt. Er nicht.
Schweiß vermischt sich und ist willkommen. Noch ein letztes tiefes Einatmen. Ausatmen.
Er öffnete die Augen, um sie sicher zu führen, in die nächste Bewegung, der noch hunderte folgen würden in dieser Sommernacht.
ANMERKUNG
Stattgefunden und ermöglicht in einer Milonga, die auf Tandas und Cortinas verzichtet (Loft, Berlin).
Bei geschätzten sechzehn Unterbrechungen in einer Milonga, die Cortinas einsetzt, wäre dieses Tanzerlebnis so niemals zustande gekommen.
Vielleicht erfreuen sich genau aus diesem Grunde immer mehr Menschen an Neo-, Nuevo-, Electro- und Rave-Tango, aber auch an klassischen Milongas, sofern sie ohne Einwirkung von Außen die Leute tanzen lassen, wann sie wollen, wie lange sie wollen und mit wem sie wollen.
Vorgelesen von Julia Dombrowski
Christian Stoll, 30.10.2019