Zeit zu gehen

Tango tanzen unter freiem Himmel wurde angeboten, eine Freiluft-Milonga. Nach zwei Jahren coronabedingtem Tangoverzicht traute er sich zu Ostern 2022 wieder auf Milongas, wenn auch nur auf solche, die unter freiem Himmel stattfanden.

Er gehört trotz fortgeschrittenen Alters mit zu den besten Tänzern der Stadt und war entsprechend begehrt bei den Tänzerinnen in ganz Nordrhein-Westfalen. Umgekehrt war es leider nicht so; nur wenige Frauen weckten sein tänzerisches Interesse. Die ihm bekannten Frauen seiner Altersklasse hatten sich in tänzerischer Hinsicht in all den Jahren kaum weiterentwickelt, sind stehen geblieben irgendwo zwischen fortgeschrittenem Anfängerniveau und Mittelstufe. Folglich wurden seine tänzerischen Highlights immer seltener, die Sucht danach immer intensiver. Jüngere und Frauen aus der Encuentro-Szene interessierten ihn nicht, ihre Motivation Tango zu tanzen ist eine andere, nicht kompatibel.
Unzufrieden mit der Situation und Besserung nicht in Sicht dachte er immer öfter über das Aufhören nach.

Was er durchmacht, haben vor ihm schon dutzende exzellente Tänzer durchgemacht: Um so höher man steigt, um so dünner wird die Luft. Um so besser du wirst, um so seltener triffst du auf adäquate Partner. Im Sport ist das gang und gäbe.

Als er noch auf Anfängerniveau unterwegs war, verbuchte er zahlreiche solch schöner Tanzerlebnisse. Auch noch als guter Tänzer im „Hohen Niveau“. Das war vor über zehn Jahren.

Heute hält ihn genau genommen nur noch eine einzige Frau bei der Stange. Das Tanzen mit ihr findet auf gleichem Level statt und ist an Perfektion kaum zu übertreffen. Sie teilt mit ihm die Überzeugung, dass Tango die hohe Kunst des Führens und des Folgens ist. Diese Kunst macht es erst möglich, Musik in Bildern darzustellen und gleichzeitig den Musikern höchsten Respekt zu zollen. Jedes Mal anders. Jedes Mal neu. Tausendfach. Und nie langweilig.
Leider wohnt sie nicht in der gleichen Stadt und hat auch noch eine kleine Familie zu versorgen und daher wenig Zeit für ihn und den Tango. Nichts ist schmerzhafter als ein unerfülltes Tangoleben.

Nun stand er nach langer Tanzpause auf besagter Freiluft-Milonga.
Er hatte sich in die hinterste Reihe gestellt. Wollte nicht gesehen werden. Nicht Tanzen. Nur für einen kurzen Moment sein einsames, verwahrlostes Tangoherz aufglühen lassen. Das Ambiente einsaugen, die Live-Musik schmecken und dann wieder nach Hause gehen. Das war sein Vorhaben.
Wäre er besser der Veranstaltung fern geblieben.

Mit einem Piks in den Rücken überraschte ihn eine Bekannte. Eine von den besseren Tänzerinnen, mit der er schon viele Tangos getanzt hatte. Sie hatten sich seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen. Um so größer war die Wiedersehensfreude. Im Laufe des Gesprächs schilderte sie ihm ihre Angst, das Tangotanzen verlernt zu haben.

Vergangenen Freitag, erzählt sie, wäre sie das erste Mal wieder nach zwei Jahren tanzen gewesen und es soll katastrophal gewesen sein. Nichts hätte mehr funktioniert. Rein gar nichts, was nur zu einem geringen Teil an den Tänzern gelegen hätte. In dieser Woche nun, wolle sie final herausfinden, ob sie das Tanzen tatsächlich verlernt habe und dem Tango den Rücken kehren werde oder nicht. „Noch einer der ans Aufhören denkt“, dachte er und milderte ihre Befürchtungen mit den Worten, dass man den Tango nicht so schnell verlernen würde und es nur ein wenig Übung bedarf, um wieder reinzukommen.

Diesen Satz nahm sie genüsslich zum Anlass, um ihn unverblümt aufzufordern. Denn sie tanzte sehr gerne mit ihm und fingerte ihn immer mit Erfolg aus der Masse, egal wo sie sich trafen. Er lehnte ab. Einmal, zweimal und verwies auf den Mann, der rechts neben der Bühne stand. Mit ihm hat sie vor der Coronakrise des Öfteren lange und ausgiebig getanzt. Er würde sie sicherlich zurück auf die alte Spur bringen, so sein Vorschlag.
Um Gotteswillen Nein, wehrte sie ab, das könne sie ihm nicht zumuten, so ungelenk wie sie sich zurzeit bewegen würde. „Aber du könntest mich doch eintanzen“, meinte sie schon fast trotzig. „Vielen Dank“, antwortete er und spielte den Beleidigten. „Ich bin also nur der Eintänzer?“ „Nein“, protestierte sie vehement. „Das war als Kompliment gedacht. Du bist der wahre Könner, der Maestro unter allen. Wenn es einem gelingt, mich zurück in die Spur zu bringen, dann du. Der andere ist nur eine selbstverliebte Diva.“

Er schmunzelte über den leidenschaftlich geführten Vortrag und gab seinen Widerstand auf, nahm sie bei der Hand und führte sie wortlos auf die Tanzfläche. Nach einer halben Stunde intensivem Tanztraining bedankte sie sich herzlichst über ihre zurückgewonnene Sicherheit und wechselte hinüber zur Bühne, von wo aus der Andere nach wie vor die Szenerie gelangweilt beobachtete. Nach kurzer Begrüßung betrat sie zusammen mit ihm die provisorische Tanzfläche und sollte sie auch nicht mehr verlassen.

Der „Andere“ gehört zu den etwas besseren Tänzern, hält sich selbst aber für den Größten. Die Bezeichnung „selbstverliebte Diva“ passt. Den Tango nutzt er lediglich zur Selbstdarstellung und bedient sich fast ausnahmslos jüngeren, schlanken Frauen, die in der Regel nicht zu den besten Tänzerinnen gehören. Mit ihnen praktiziert er seine Moves, die zuweilen spektakulär aussehen, aber wenig mit Tango zu tun haben und keinesfalls mit der Musik harmonieren.
Den jungen Hupfdohlen in seinem Arm scheint das ebenso wenig zu stören wie sein ungepflegtes Äußeres, Körpergeruch und das Rieseln weißer Schuppen aus verdorrtem Haar.
Es scheint ihnen zu gefallen, wie er ihr Bein sechs-, achtmal hintereinander hoch und hinunter hievt, kaschiert es doch spielerisch das eigene tänzerische Unvermögen und stellt sie zudem auch noch in den Mittelpunkt umherstehender Zuschauer; ihre anhaftenden Blicke werten sie als Bewunderung für die tänzerische Darbietung und erkennen mangels Erfahrung nicht, dass das Gegenteilige die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zieht.

Dass ausgerechnet sie, eine erfahrene Tänzerin, den ganzen Abend mit dem Anderen getanzt hat, gab ihm zunächst zu denken. Später schmerzte ihn dieser Gedanke.
Offensichtlich scheinen Tänzer mit gewagten Moves neuerdings beliebter zu sein, als Tangotänzer, die auf Führung und Musikalität achten. 
Er hatte insgeheim gehofft, sie würde ihn – der zwischenzeitlich Lust aufs Tanzen bekommen hatte –  freudig zum Tanz auffordern, den langweiligen Moves überdrüssig und voller Sehnsucht nach klarer Führung und beschwingtem Tanz zu schönen Melodien. Fehlanzeige! Noch nicht einmal ein sehnlich erwünschter Blickkontakt erfolgte.

Schwer angeknockt stand er in hinterster Reihe und schaute dem Treiben auf der Tanzfläche zu, schaute den beiden zu. Ihm war beschwerlich zumute. Er fühlte sich benutzt und ausgegrenzt. Nicht mehr up to date. 
Als es dunkel wurde, trat er den Heimweg an. In der Nacht fand er kaum Schlaf.

Am nächsten Morgen schaltete er sein Handy an und las folgende SMS: 
Hallo mein Lieber, es klingt vielleicht pathetisch – aber du hast mir heute mein Tangoleben gerettet.

Er legte das Handy zur Seite und ließ die Nachricht unbeantwortet.
Stattdessen rief er seine langjährige Tanzpartnerin an, um ihr mitzuteilen, dass er den Tango ab sofort an den Nagel hängen würde. 

Alles Gute alter Freund.

Christian Stoll, 09.09.2022

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