Sylvie
Hamburg, Flughafen. Es war einer dieser Momente, die das Leben verändern.
Sylvie, aus Rom kommend, und Eric aus München begegneten sich an der Gepäckausgabe.
Ihr prall gefüllter Koffer war aufgeplatzt. Mit schwarzem Panzerklebeband machte er das Gepäckstück wieder transportfähig.
Sylvie lachte, als er die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten seines „Reisebegleiters“ aufzählte:
die Schlitze der Klimaanlagen in den Hotels abkleben, seine dünnen Plastikfolien über den Hotelmatratzen befestigen, um allerlei Getier fernzuhalten, oder, wie er schelmisch hinzufügte, um fremden Frauen die aufgeplatzten Koffer zu flicken – wobei er wie ein Degenfechter mit der schwarzen Rolle vor ihren Augen herumfuchtelte.
Es war sein pragmatischer Charme, der sie augenblicklich für sich einnahm.
Gemeinsam nahmen sie die S-Bahn. Der Small Talk über Reisen und Berufe entwickelte sich während der Fahrt zu einem Dialog voller Sympathie und Leichtigkeit. Sylvie, 45, Personalchefin und leidenschaftliche Tangotänzerin, erzählte von ihrem erwachsenen Sohn, der zu der Zeit im Ausland studierte und sich vor kurzem unsterblich in eine Brasilianerin verliebt hatte. Eric, 49, Informatiker mit eigener Firma, erzählte von seinen beiden Söhnen, seiner neun Jahre zurückliegenden Scheidung und dass er seitdem ein glücklicher Single sei.
Zu beider Überraschung hatten sie nicht nur denselben Zielbahnhof – Hamburg-Altona –, sondern wohnten auch noch in benachbarten Stadtteilen: Sie in Ottensen, er in Altona.
Die Verabschiedung endete mit einer freundschaftlichen Umarmung und besten Wünschen für den weiteren Lebensweg. Eric schaute ihr nach. Seine Vermutung, dass sie gleich einen wartenden Mann überschwänglich umarmen würde, erfüllte sich nicht. Stattdessen drehte sie sich um, winkte ihm mit einem strahlenden Lächeln zu und verschwand in der Menge.
Eigentlich wollte er sie nach ihrer Telefonnummer fragen, aber er traute sich nicht. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass diese tolle Frau ohnehin kein Interesse an ihm gehabt hätte und wahrscheinlich in einer festen Beziehung lebte.
Fünf Monate später, an einem Samstagabend, trafen sie sich zufällig in der Elbphilharmonie wieder. Sylvie sah ihn an einem Stehtisch stehen und sprach ihn an. Erics Wiedersehensfreude war groß – hatte er doch nach der ersten kurzen Begegnung, aus welchen Gründen auch immer, immer wieder an sie denken müssen. Seine freudige Reaktion vertrieb schlagartig Sylvies anfängliche Unsicherheit, ihn anzusprechen. Sie verabredeten sich auf einen Drink nach dem Konzert, denn der Einlass in den Saal hatte gerade begonnen und ihre jeweiligen Begleiter drängten zum Aufbruch.
Auf das Klavierkonzert mit Lang Lang hatte sich Eric sehr gefreut, aber das Wiedersehen mit Sylvie ließ alles andere in den Hintergrund treten. In seinem Kopf dominierte nicht die Musik des Maestros, sondern die lieblichen Violinenklänge, die nur glückliche Menschen hören können.
Sie stand am vereinbarten Treffpunkt und empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln.
Die Zeit im nahe gelegenen Restaurant verging wie im Flug. Ihr Gespräch glich einem Staffellauf: Kaum war ein Thema abgeschlossen, folgte schon das nächste. So groß war die Neugier der beiden aufeinander.
Schließlich wurden sie als letzte Gäste freundlich hinauskomplimentiert.
Bevor Sylvie ins Taxi stieg, hatte sich Eric vorgenommen, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Diesmal würde er sich nicht zieren. Doch sie kam ihm zuvor und fragte nach seiner Handynummer. Er reichte ihr seine Visitenkarte. Sie küsste ihn auf die Wange, stieg ins Taxi und fuhr davon.
Schmetterlinge im Bauch und die Freude über so viele Gemeinsamkeiten machten das Einschlafen schwer. Doch die langsam aufsteigende Angst vor dem, was verschwiegen wurde, ließ das Durchschlafen unmöglich werden.
Sonntagmorgen. Eine SMS von Sylvie: „Lust auf einen Sonntagsspaziergang? 15 Uhr vor dem Altonaer Museum?“
Eric mochte ihre direkte Art; er war in solchen Dingen genauso schnörkellos und antwortete prompt: „Ich kömme!“
Sie trug Jeans, ein enges weißes T-Shirt und eine Jeans-Jacke und sah damit hinreißend aus. Die Umarmung fiel herzlich aus, und gemeinsam gingen sie hinunter zur Elbe, in Richtung Museumshafen, und von dort die vielen Treppenstufen hinauf zum Heinrich-Heine-Park.
Auf einer Bank zwischen zwei uralten, knorrigen Ahornbäumen verweilten sie über eine Stunde, bevor sie sich wieder auf den Heimweg machten. Auch diesmal förderten ihre offenen Gespräche zahlreiche Gemeinsamkeiten zutage, die eine tiefe geistige Verbundenheit entstehen ließen und die Zuneigung vertieften – als würden sie sich schon ewig kennen.
Sie verabredeten sich für den nächsten Montag und den Mittwoch.
Das Rendezvous am Mittwochabend im Restaurant des Alsterhauses war – wie alle Treffen zuvor – geprägt von echten Gesprächen: intensiv, unverblümt, aufrichtig, so wie sie nur Verliebte führen, die alles voneinander wissen wollen.
Auf dem Rückweg war der Bus überfüllt. Die Menschen standen dicht gedrängt, wie in einer Kolonie von Königspinguinen – aber das störte Sylvie und Eric nicht. Im Gegenteil. Sie sprachen nicht, sondern sahen sich nur an, während ihr Kopfkino unablässig die letzten Tage abspielte.
Plötzlich fasste sie Eric mit beiden Händen am Hemdkragen, zog sich zu ihm hoch und küsste ihn leidenschaftlich. Sie küssten sich lange und intensiv, und als sie sich schließlich voneinander lösten, raunte jemand aus der Menge: „Gut, dass der Maskenzwang aufgehoben ist“, woraufhin ein verhaltenes Gelächter die beiden Verliebten umgab, das aber schnell wieder verstummte.
In Hamburg-Altona angekommen, verabschiedeten sich beide mit einer festen Umarmung und einer Mischung aus leidenschaftlichen und zärtlichen Küssen, bevor sie Eric für den Samstag zum Essen in ein kleines Bistro einlud.
Dieser Samstag sollte für Sylvie zum Wendepunkt in ihrem Leben werden.
Bisher hatte sie es vermieden, Eric von der Vergewaltigung zu erzählen, die sie vor vier Jahren erlitten hatte und die sie seither jeden Körperkontakt hat meiden lassen. Doch die Begegnung mit Eric hatte alle Dämme in ihr geöffnet, und die Leidenschaft durchströmte mit wohliger Wärme jede Zelle ihres Körpers.
Um diesem besonderen Tag einen würdigen Rahmen zu geben, hatte sie ein Doppelzimmer im Hotel der Elbphilharmonie mit Blick auf die Elbe gebucht. Dorthin wollte sie Eric nach dem gemeinsamen Abendessen entführen, mit ihm gemeinsam in der großen Badewanne liegen und bei Kerzenschein die Schiffe auf der nächtlichen Elbe vorbeiziehen sehen. Dieser Abend sollte für beide unvergesslich werden.
Sylvie hatte bereits am reservierten Tisch Platz genommen und wartete voller Ungeduld auf Eric. Als er zur Tür hereinkam, wäre sie fast aufgesprungen und ihm entgegengerannt, so sehr war sie angespannt.
Eric beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie zärtlich auf den Mund, setzte sich ihr gegenüber und hielt ihre Hände.
Sie bestellten Wein, zweimal gegrilltes Gemüse und eine große Schüssel Hähnchenbrust-Salat.
Genüsslich stocherten sie auf ihren Tellern herum, schoben sich gegenseitig mit spitzen Gabeln kleine Häppchen in den Mund, als Sylvie plötzlich innehielt, als hätte sie sich verschluckt. Sie stand auf und eilte mit einem deutlichen Fingerzeig hin zu der schmalen Treppe, die steil nach unten zu den Toiletten führte.
Die Minuten vergingen, als plötzlich ein gellender Schrei von unten die gedämpfte Stille durchbrach. Der Schrei war noch nicht verhallt, da stürzte Eric schon kopfüber die Treppe hinunter.
Vor dem Eingang zur Damentoilette stand eine Frau, kreidebleich und zitternd, und zeigte auf einen Fuß, der unter der Tür hervorlugte. Es war eindeutig Sylvies Fuß.
Eric drückte die Toilettentür auf und sah Sylvie auf der Seite liegen, eingeklemmt in dem schmalen Spalt zwischen Toilettenschüssel und Wandfliesen, die Klobürste lag quer über ihrem Gesicht. Sie hatte sich eingenässt. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten leblos ins Nichts. Blaue Lippen, blaue Fingernägel.
„Herzstillstand“, schoss es ihm durch den Kopf.
Er packte sie an den Fußgelenken und zog sie mit aller Kraft aus dem engen Verschlag hinaus in den Vorraum, dann
strich er ihr die Haare aus dem Gesicht, vergewisserte sich, dass sie keinen Puls hatte, überprüfte die Lage ihrer Zunge und begann mit der Herzdruckmassage.
Als seine Kräfte nach einigen Minuten nachließen, erlaubte Eric dem Mann neben ihm, die Druckmassage fortzusetzen. Eric zählte die Stöße mit – eins, zwei, drei – und bei jedem Hundertsten legte er seinen Mund auf Sylvies kalte, blaue Lippen, um Sauerstoff in ihre Lungen zu blasen, während ihre Augen teilnahmslos an ihm vorbei zur Decke starrten. Der Notarzt und zwei Rettungssanitäter waren eingetroffen und übernahmen.
Eine Injektion in ihr Herz und mehrere Versuche mit dem Defibrillator blieben erfolglos.
Seit dem Auffinden von Sylvie waren mehr als sechzig Minuten vergangen.
Als sich ihr Zustand nicht besserte und Leichenflecken sichtbar wurden, brach der Arzt die Behandlung ab.
Sylvie war tot.
In den Tagen nach ihrem Tod lernte Eric ihre Familie kennen. Von ihrem Bruder Berthold erfuhr er von ihrer erblich bedingten Fettstoffwechselerkrankung, die medikamentös behandelt werden musste. Und er erfuhr von der Buchung des Hotelzimmers für den Tag, an dem sie gestorben war.
Ihr Grab in Ottensen besucht er jeden Sonntag. Und wenn das Wetter es zulässt, sitzt er auf der Bank zwischen den beiden knorrigen Ahornbäumen und lauscht dem Echo der Erinnerung.