Die Ausrede

Heute sollte es ein ganz besonderer Abend werden. Mit diesem Gedanken und einem zufriedenen Lächeln im Gesicht machten sich Marie und ihr Mann Pierre am frühen Morgen  auf den Weg zum nahe gelegenen Marktplatz. Dort wollten sie alles frisch einkaufen für das große Fest, zu dem sie alle Freunde aus der Umgebung eingeladen hatten – und selbstverständlich auch alle Nachbarn.

Die Ausrede -Kurzgeschichte aus Frankreich

Marie war Deutsche. Ihr Mann, Pierre, war Franzose. Beide waren Mitte fünfzig.
Heute vor einem Jahr hatten sie Deutschland für immer verlassen, um hier in Frankreich zu leben und zu arbeiten.
Ihr weiß getünchtes Haus mit dem tief hängenden grauen Schilfdach und den hellblauen Fensterläden aus altem, rissigen Holz steht am Stadtrand von Saintes-Maries-de-la-Mer, einem kleinen Ort an der französischen Südküste, der zum Département der Côte d’Azur gehört.

Die Einkäufe waren erledigt und als alles in der Küche verstaut war, wurde erst einmal auf  der Terrasse ausgiebig gefrühstückt.
Danach arbeiteten sie eifrig in der Küche, um das große Festmahl vorzubereiten.
Es wurde geschnitten, geschält, zerhackt, gekocht und gebraten, was das Zeug hielt.
Als die Vorbereitungen fast abgeschlossen waren und Pierre sich schon zu einem Nickerchen zurückgezogen hatte, fiel Marie plötzlich ein, dass sie die Schnecken vergessen hatte, die sie ihrer Freundin versprochen hatte, die in Marseille lebte, wo die Schnecken sehr teuer und selten frisch waren.

Mit schlechtem Gewissen weckte sie ihren Mann und bat ihn, einen Eimer voll dieser Otala pubnctata – die Weinbergschnecke des Südens – zu sammeln, die zu Dutzenden die Zaunpfähle unten an den Wiesen besiedelten.

Pierre holte sich einen Eimer aus dem Schuppen und machte sich auf den Weg zu den Wiesen, die etwa 200 Meter hinter dem Haus begannen. Auf dem Weg dorthin änderte er seinen Plan. Er ließ die Wiesen links liegen und ging hinunter zum menschenleeren Strand, um im Meer zu schwimmen. Anfang Oktober hatte das Wasser eine angenehme Temperatur. Danach wollte er noch kurz bei Jean vorbeischauen, bevor der seine Strandbar für diese Saison schloss. Auf dem Rückweg hatte er noch genug Zeit, Schnecken zu sammeln.

Das Schwimmen hatte ihm gutgetan, und nachdem ihn der Wind getrocknet hatte, machte er sich auf den Weg zu Jean. Schon von weitem hörte er die Lounge-Musik, und als er endlich an der Strandbar ankam, wunderte er sich, dass dort so viel los war. Offensichtlich hatten andere die gleiche Idee und wollten Jean noch einmal einen Besuch abstatten, bevor er seine Bar erst Anfang Juni wieder öffnen würde. Noch bevor er einen kleinen Roten bestellen konnte, stellte Jean ihm ein Glas Pastis hin. „Heute bist du eingeladen, mein lieber Pierre“, sagte er lächelnd.

Es dauerte nicht lange, bis die Männergemeinschaft um Pierre ihn ganz für sich einnahm. Man diskutierte ausgiebig über Olympia und über Fußball, bevor es um existenzielle Fragen ging, wie die richtige Haltung beim Boule etwa oder ob man Salatblätter schneiden oder zupfen sollte. Jeder hatte eine Meinung, die er auch stimmgewaltig zu Gehör brachte und manchmal wurde derart wild durcheinandergeredet, dass man sein eigens Wort kaum verstand. 

Die Stunden vergingen im Nu. Als Jean ihm den vierten Pastis einschenken wollte und dabei auf den blauen Eimer auf Pierres Schoß deutete, fragte er grinsend, ob er heute noch eine Sandburg bauen wolle. Erst da fiel es ihm schlagartig ein, dass er die Schnecken völlig vergessen hatte – und dass Marie über sein langes Fortbleiben sicher ziemlich sauer sein würde. 
Schnell verabschiedete er sich mit den besten Wünschen von der fröhlichen Runde und stapfte zügig durch den Sand heimwärts. Erst jetzt bemerkte er, dass die Dämmerung schon eingesetzt hatte, was er in der Strandbar durch den hellen Lichtvorhang nicht sehen konnte. 

Auf dem Weg zu den Wiesen überlegte er schuldbewusst, wie er seine Frau besänftigen könnte. Die zündende Idee kam ihm, als er vorsichtig die Schnecken von den Zaunpfählen löste.

Im Haus brannte schon das Licht, als er sich leise und gebückt vor die Haustür schlich und die Schnecken einzeln in einer langen, schmalen Reihe aus dem Eimer schüttete. Seine Verspätung wollte er damit erklären, dass die Schnecken den ganzen Weg von den Wiesen bis zum Haus „zu Fuß“ zurückgelegt hätten.

Als die kleinen Schleimer ihr Schneckenhaus verlassen hatten, versteckte er den Eimer hinter dem Gebüsch und rief nach seiner Frau.
Marie öffnete die Tür und musste sich ein Lachen verkneifen, als sie Pierre sah, wie er in der Hocke sitzend die Schnecken mit den Worten anfeuerte: „Kommt, kommt, bald habt ihr’s geschafft„
Gespielt lässig nahm sie eine Schnecke in die Hand und sprach mit einem schelmischen Grinsen: „Die Armen, wie erschöpft sie sind von dem langen Marsch. Die letzten Meter werde ich sie tragen. Und du, mein Lieber, wirst den Abwasch machen!“