Die Würde eines jeden Menschen achten.
In einem Supermarkt, zwei Tage vor dem zweiten Advent kurz vor Ladenschluss:
Lautes Stimmengewirr und das metallische Rollen von Einkaufswagen erfüllten die Luft.
Unter grellem Neonlicht eilten Menschen kreuz und quer durch die Gänge.
Im vorderen Teil des Supermarktes waren alle Kassen mit Personal besetzt.
Davor bildeten sich lange Schlangen, Geduld war gefragt.
Inmitten des Trubels legte eine kleine alte Frau ihre spärlichen Einkäufe auf das Band: Kartoffeln, zwei Möhren, Margarine, Fischstäbchen und eine Dose Bier. Sie machte einen damenhaft gepflegten Eindruck, der nicht zu ihrem Äußeren passte; die Schuhe waren für diese Jahreszeit viel zu dünn und an den Nähten zur Sohle hin eingerissen.
Der Mantel hatte seine besten Jahre hinter sich. Die Ärmel waren abgetragen, der Saum ausgefranst.
Ihr Blick war angespannt und starr auf ihre Einkäufe gerichtet. Die vollen Einkaufswagen um sie herum schienen sie zu verunsichern, gaben ihr vielleicht das Gefühl, fehl am Platze zu sein.
Als sie an der Reihe war, packte sie alles in einen schneeweißen Stoffbeutel und bezahlte mit einer Handvoll Münzen. Geduldig zählte die Kassiererin das Kleingeld mit den vielen Fünf- und Zehn-Cent-Stücken. Und als sie es noch einmal nachzählte, machte sich Unmut in der Schlange der Wartenden breit.
Die Kassiererin beugte sich diskret zu der alten Dame vor und sprach leise: „Es fehlen 80 Cent.“
Eine silberne Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, als sie ruckartig den Kopf hob und die Kassiererin entsetzt anstarrte. Sofort kramte die Seniorin in ihren Manteltaschen. Doch außer einem Schlüsselbund, Papiertaschentüchern und ein paar zerknüllten Kassenzettel brachte sie nichts weiter zum Vorschein.
„Dann gebe ich die Margarine wieder zurück“, flüsterte sie.
Ein Mann, der noch mit dem Einpacken seiner Einkäufe beschäftigt war, hatte die Szene beobachtet und während die alte Dame in ihren Manteltaschen kramte, entnahm er diskret seinem Portemonnaie einen Fünfzig-Euro-Schein und ließ ihn, für die Umstehenden unbemerkt, zu Boden fallen. „Entschuldigen Sie bitte“, sprach er mit sanfter Stimme, zeigte auf den am Boden liegenden Geldschein, hob ihn auf und reichte ihn der ungläubig dreinschauenden Frau mit den Worten: „Der ist Ihnen gerade aus der Tasche gefallen. Frohe Weihnachten.“