Encuentro Tango
Encuentro ist nicht DER Tango, sondern allenfalls ein kleiner Teil von ihm. Es ist eine vereinfachte Darstellung dessen, was der Tango an tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu bieten hat.
Encuentro Tango – Das Kuckucksei im Tangonest.
Über den Tango wurde schon viel geschrieben. Dieser mystische Tanz entstand aus den Sehnsüchten der Einwanderer am Rio de la Plata in Argentinien und Uruguay Ende des 19. Jahrhunderts.
Er wird als leidenschaftlich, grenzenlos, freiheitsliebend, sehnsuchtsvoll und erotisch beschrieben. Encuentro hingegen entstand Anfang der 2010er Jahre in den Köpfen von Tangoveranstaltern, die damit ihre Kassen füllen wollten. Sie vereinfachten bzw. verwässerten die tänzerischen Anforderungen, zwängten den Tanz in ein enges Korsett aus Regeln und Verhaltensvorschriften und nannten das Produkt ebenfalls Tango.
Was ist Encuentro?
Encuentro ist ein durch Regeln und Verbote gekennzeichnetes Bewegungsmuster in Form einfacher Schrittkombinationen, das dem Tango entlehnt ist. Auch die Musik stammt aus der Epoca de Oro.
Die Encuentroszene ist nicht öffentlich. Zu den Veranstaltungen wird diskret in geheimen Foren verabredet, unter Ausschluss der allgemeinen Tangoszene.
Der Tanz
wird ausschließlich in enger Tanzhaltung getanzt, wobei die Füße stets auf dem Boden bleiben müssen. Boleos, Ganchos, Volcadas, Sacadas und Kicks – all die Elemente, die der Musikinterpretation im Tango dienen – sind beim Encuentro unerwünscht.
Des Weiteren ist das Tanzen streng durch Tanda und Cortina reguliert. Dies betrifft sowohl die Dauer, in der ein Tanzpaar zusammenbleibt, als auch die Auswahl des Tanzpartners. Wenn das Zeichen zur Tanzpause (Cortina) erklingt, wird erwartet, dass die Führenden zur nächsten Tanda eine andere Person auffordern. Es ist unüblich und sogar verpönt, mit demselben Partner zweimal hintereinander zu tanzen. Dieser kontinuierliche Wechsel des Tanzpartners, der im Tango sonst undenkbar ist, wird als wünschenswert angesehen und streng beobachtet.
Der Begriff „Social Dancing“ mag für die Encuentro-Szene passend sein, jedoch trifft er nicht auf den Tango zu. Tango hat nichts mit „Social Dancing“ zu tun (→ Encuentro Social Dancing).
Das Regelwerk des Encuentro
legt fest, zu welchem Zeitpunkt die „neuen” Paare die Tanzfläche für die folgende Tanzrunde betreten dürfen und an welcher Stelle des Carrés der Eintritt erfolgen soll. Sobald der Tanz beginnt, ist eine enge Tanzhaltung vorgeschrieben und es wird eine weitere Vorschrift eingeführt. Es dürfen nur kleine Schritte getanzt werden, wobei die Füße stets auf dem Boden bleiben müssen.
Für die Veranstalter bzw. Milongabetreiber bedeutet das Regelwerk eine rege Teilnahme und volle Kassen.
Für die Tänzerinnen und Tänzer bedeutet es, dass sie viel Gelegenheit zum Tanzen haben.
Dem Regelwerk des Encuentro, das dem eines streng geführten Schrebergartenvereins ähnelt, müssen noch zwei weitere Regeln hinzugefügt werden:
Die erste betrifft die Musikauswahl. Akzeptiert wird nur Tangomusik aus der Epoca de Oro. Die Tangos aus dieser sehr überschaubaren Zeit werden rauf und runter gespielt, nicht selten von DJs, die selbst kein hohes Tanzniveau haben. Das führt dazu, dass sich innerhalb der Musikauswahl oft Musikstücke finden, die untanzbar sind.
Die zweite Regel besagt, dass Encuentro-Veranstaltungen nicht öffentlich bekannt gemacht werden. Interessierte sind in geheimen Foren organisiert und verabreden heimlich ihre Tanznächte.
Was den Tango so faszinierend macht, das Zusammenspiel der hohenn Künst von Führen und Folgen, gepaart mit umfassenden Kenntnissen über Schrittfolgen und Figuren, eröffnet erst die Interpretationsmöglichkeiten, die Noten in Bilder umzuwandeln.
Encuentro hingegen fehlt all dies. Aus diesem Grund sollte sich Encuentro vom RioPlata Tango distanzieren – genauso selbstverständlich, wie es die Nuevo-Szene, die Neo- und die Electro-Tango-Szene tun: als eigenständige Tanzform.
Jedoch tut Encuentro genau das nicht! Veranstalter, Milongabetreiber und Unterrichtende vermitteln in Wort und Bild, dass Encuentro Tango sei. Doch das ist Encuentro eben nicht.
Der Tango vom Río de la Plata ist Weltkulturerbe und ein schützenswertes immaterielles Kulturgut. Er muss erhalten und gefördert werden und darf nicht durch Vereinfachung, Ausgrenzung und ein starres Regelwerk verwässert werden.
Tango: Eine heftige Sehnsucht nach Freiheit.
Von Gloria Dinzel (Autor), Rodolfo Dinzel (Autor), Eckart Dietrich (Übersetzer)
Christian Stoll, 9. April 2018