Ich wurde im Mittelmeer von einem großen weißen Kai angegriffen.
Trotz meiner Angst vor der Tiefe durchzog ich das Mittelmeer in ruhigen, langen Zügen. Das kristallklare Wasser ermöglichte mir einen Blick bis auf den Meeresgrund. Plötzlich stieß ich auf ein Hindernis: Zwei schneeweiße Beine mit dem Durchmesser von gebleichten Korkeichen versperrten mir den Weg. Als ich auftauchte, erblickte ich einen rothaarigen, kalkweißen Hünen mit einem Rücken so breit wie eine Flurkommode. Er stand bis zu den Oberschenkeln im Wasser und strullte ungeniert im hohen Bogen in das klare, saubere Nass.
Auf keinen Fall wollte ich dieses egoistische, skrupellose und asoziale Verhalten unkommentiert lassen. Um Eindruck zu machen, bemühte ich mich um eine ebenso imposante Haltung: Mit aufgeblähter Brust stieg ich aus den Fluten, den ausgestreckten Zeigefinger auf sein Haupt gerichtet. Entschlossen schritt ich auf das weiße Ungetüm zu und ließ meinem Unmut freien Lauf — mit Worten, die jede Mutter eines Kleinkinds in Verzückung versetzt hätten, wäre eine in der Nähe gewesen:
„Was soll die Sauerei hier? Sie Schwein — müssen Sie ausgerechnet hier ins Meer pinkeln, Sie Umweltsau?“
Verdutzt drehte sich der Riese zu mir um, warf mir einen bösen Blick zu und holte ohne Vorwarnung zu einem Faustschlag aus – offensichtlich unbeeindruckt von meiner Erscheinung. In letzter Sekunde konnte ich dem Schlag ausweichen. Wie ein Aal stürzte ich mich geschmeidig rücklings in die Tiefe und suchte mit schlängelnden Schwimmbewegungen schnell das Weite.
Auf dem Rückweg zum Hotel sah ich den weißen Riesen schon von weitem am äußeren Rand der Cafeteria sitzen. Ich beschloss, ihn zu ignorieren. Doch als er mich sah, stand er mit einem breiten Grinsen auf und reichte mir versöhnlich die Hand: „Nix für ungut wegen vorhin, Alter. Ich bin der Kai aus Bottrop.“
Seine Worte entspannten mich. Gut gelaunt setzte ich meinen Weg zum Hotelzimmer fort. Dort angekommen, fragte mich meine Frau eher beiläufig, während sie Wäsche wegräumte, ob es schön gewesen sei, im Meer zu schwimmen. Ganz cool antwortete ich: „Nicht so toll.“
„Warum?“
„Ich wurde von einem großen weißen Kai angegriffen!“