Tango - Führen und Folgen

Die hohe Kunst des Folgens

Eric, groß und schlank, steht vor seinem Spiegelschrank und knöpft sich ein weißes Hemd zu, das er über seiner hellblauen Jeans trägt. Seine frisch geputzten Stiefeletten stehen in Reichweite. Seit er Ende der neunziger Jahre mit dem Tangotanzen begonnen hat, trägt er nichts anderes als diese schwarzen Stiefeletten aus feinstem Ziegenleder. Ein Schuhverkäufer hatte sie ihm damals wärmstens empfohlen mit den Worten: «Sie liegen an wie eine zweite Haut.»
Als die in Italien ansässige Firma schließen musste, kaufte er gleich mehrere Paare Caligula. Diese, die er soeben in seinen Beutel gesteckt hatte, waren sein letztes Paar.

Auf sein Outfit legt er schon lange keinen gesteigerten Wert mehr. Früher, vor einigen Jahren, hatte er sich noch vor jedem Milonga-Besuch aufgebrezelt. Heute tat er das nur noch bei besonderen Anlässen, wie zum Beispiel zu einem Tangoball. 
Erics Wege heute zu einer Milonga sind nicht mehr von prickelnder Vorfreude auf ein genussvolles Tangotanzen geprägt, so wie es noch vor einigen Jahren der Fall war. Damals traf er auf zahlreiche Frauen, deren tänzerische Fähigkeiten eine Symbiose zwischen den Körpern und der Musik erst möglich machten. Sie waren technisch versiert, was Schrittfolgen und Figuren anbelangt, und beherrschten die hohe Kunst des Folgens aus dem Effeff. 

Führen und Folgen im Tango
Die hohe Kunst des Folgens

Eine Vielzahl von Frauen heutzutage beherrscht nur ein kleines Repertoire an Tangofertigkeiten, die allenfalls die einfachen tänzerischen Anforderungen bei Encuentro-Veranstaltungen erfüllen – enge Tanzhaltung, kleine Schrittfolgen, Ocho Cortados – mehr aber auch nicht. 

Was Eric noch immer in seiner und in fremden Städten durch die Nächte treibt, hin zu den Milongas, sind die Erinnerungen an seine tiefen Tanzerlebnisse und die Sehnsucht danach, es noch einmal erleben zu dürfen.
Dass es heute Nacht passieren würde, ahnte er noch nicht.

Auf dem Weg zu seiner wöchentlichen Mittwochsmilonga fragte er sich, ob es überhaupt erstrebenswert sei, ein hohes tänzerisches Niveau zu erreichen, angesichts der seltenen Glücksmomente, oder ob es nicht klüger gewesen wäre, bei Erreichen eines mittleren Tanzniveaus die Bestrebungen zur Perfektion einzustellen, wo doch die aus dem mittleren Niveau wesentlich mehr schöne Tanzerlebnisse erfahren, wie er hörte.

Kaum hatte Eric die Eingangstür zur Milonga geöffnet, schlug ihm feuchtwarme Luft entgegen, die ihn bereits an der Kasse ins Schwitzen brachte. Mit einem Rundumblick erfasste er das Geschehen, nickte hier und da grüßend mit dem Kopf, während er sich zügig seiner Jacke entledigte, um den Schweißflecken unter der wattierten Jacke vorzubeugen.
Wie immer wechselte er sein Schuhwerk im Stehen. Diese Gewohnheit hatte er sich angeeignet, seit sein erster Tanzlehrer zu seinen Schülerinnen sagte: «Gute Tänzer erkennt man daran, dass sie sich die Schuhe im Stehen anziehen. Das lässt auf eine stabile Achse schließen. Deshalb, meine Damen, habt immer die Umkleide im Blick.»

Im Saal nichts Neues, alles wie immer. Die Tanzfläche war gut gefüllt mit altbekannten Gesichtern und hier und da ein paar Tangotouristen. Gerade wollte er sich zum Tresen aufmachen, als sich inmitten der abgedunkelten Tanzfläche ein ihm zugewandter Hinterkopf durch eine elegante Drehung plötzlich in ein helles Gesicht verwandelte, aus dem ihm zwei Augen unvermittelt entgegenblickten. Als hätten ihm diese Augen einen mysteriösen ‚Ping‘ gesendet, galt seine Aufmerksamkeit plötzlich und unerklärlicherweise nur noch ihr.

Sie schien ein wenig älter zu sein als er. Ihr weißblondes Haar trug sie locker hochgesteckt, und im Nacken kräuselte sich feinstes silbernes Engelshaar. In einem schlanken, ovalen Gesicht zeigten sich unter wunderschön geschwungenen, dichten Augenbrauen – geformt wie die Hörner eines Steinbocks – große braune Augen. Nase und Lippen waren schmal und betonten das feminine Gesicht, das trotz reichlicher Faltenbildung keineswegs an Attraktivität verloren hatte. Aber ihr Äußeres war nicht der alleinige Grund für sein Interesse. Vielmehr war es ihre Haltung, ihre Umarmung, die in ihm ein warmes Gefühl tänzerischer Seelenverwandtschaft auslöste – eine Verbündete im Geiste des Tangos. 

Eric setzte sich etwas abseits, um sie ungestört beobachten zu können.
Ihm fiel sofort ihre exzellente Schrittlänge auf und dass sie ihre Füße beim Gehen hintereinander absetzte, quasi wie auf einer Linie getanzt, einspurig gewissermaßen, und nicht, wie er es sehr häufig erlebte, nebeneinander, also zweispurig. Diese weitverbreitete Unart des Gehens nervt Eric, weil sie nicht nur ein Schwanken der Oberkörper provoziert, sondern die Führenden aus der Spur zieht, was eine ständige Nachjustierung der Tanzrichtung zur Folge hat.
Sie machte das wunderbar.

Jetzt, da sie direkt vor ihm tanzte, konnte er sie vollständig in Augenschein nehmen. Sie trug ein lachsfarbenes, seiden schimmerndes Kleid mit Paisleymuster, passend zu ihrem hellen Teint. Die Farbe ihrer Lippen, Finger- und Fußnägel war der Grundfarbe ihres Kleides angepasst – lachsfarbig. Schlank, ohne eine ausgeprägte Taille, fielen Eric ihre schönen Beine und gepflegten Füße auf, die in goldfarbenen Pumps steckten. Besonders auffällig waren ihre Fußzehen, die größenmäßig wie Orgelpfeifen nebeneinander gereiht im Fußbett lagen. Das fiel ihm deshalb auf, weil er nicht selten eine Überlänge des zweiten Zehs sah,  der über den Rand der Sohle hinausragte und permanent mit dem Parkett in Berührung kam, was dem Abtrünnigem über kurz oder lang mit Sicherheit eine Hornhaut wachsen lässt, weil es offensichtlich die Eitelkeit verbietet, bei der Bestimmung der Schuhgröße das überlange Teil mit einzubeziehen.

Die Tanda war vorbei. Eric wartete einen Moment, bis sich der Trubel auf der Tanzfläche gelegt hatte, um dann zu ihr zu gehen.
Im selben Moment, in dem er aufspringen wollte, stand sie plötzlich vor ihm, wie aus dem Nichts. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, lächelte sie ihn an und sagte: „Ich dachte schon, Du würdest mich nie auffordern.“
Ha, Humor hat sie jedenfalls, dachte Eric und musste herzhaft über den gelungenen Joke lachen. Er sprang auf, berührte sie leicht mit beiden Händen an den Schultern, küsste ihre Wangen links und rechts, die sie ihm bereitwillig hinhielt. «Ich bin Eric.» «Sehr erfreut, Eric. Ich bin Isabelle.»

Die Tanda setzte ein. „Hasta Siempre Amor“ von Carlos Di Sarli erklang. Passend zur Musik wählte sie die enge Tanzhaltung und legte dabei ihr gesamtes Körpergewicht auf sein Brustbein ab, was ihm signalisierte, dass sie nur durch Gehen und Pausetanzen durch die Musik von Di Sarli geführt werden wollte, nichts sonst. Keine Figuren oder sonstigen Schnickschnack. Alleine diese Haltung zeigte ihm, dass er eine Vollblut-Tanguera in den Armen hielt.
Sie zu führen war pures Vergnügen. Das Gehen mit ihr war ebenso ein Genuss wie das Pausetanzen. Wie lange ist es her, überlegte Eric, dass ich auf eine Tänzerin getroffen bin, die eine ganze Note lang – vier Zähleinheiten – bewegungslos stillstehen konnte, ohne durch selbsterzeugte Verzierungen mit den Beinen herumzuwackeln, die besonders bei der Musik von Di Sarli so überflüssig sind wie ein Kropf. Eric hatte dann immer das Bild eines Anglers vor Augen, der einen zappelnden Fisch fest umschlossen in den Armen hielt. Obwohl dieser Vergleich etwas übertrieben ist, passt er doch irgendwie.

Noch nicht einmal eine „Golpecita“ hielt sie für angebracht. Nein, sie, Isabelle, stand still und ermöglichte somit beiden den genussvollen Augenblick der Ruhe, in dem sich ihre Atemzüge anglichen und die Musik ihre Körper umspülte wie seichte Meereswellen einen Stein im sandigen Ufer.

Die Atmung war ruhig und tief. Ihr Gewicht auf seinem Brustkorb machte aus zwei Oberkörpern einen und ermöglichte ihm eine optimale, filigrane Führung, wie Eric sie nur selten in den letzten Monaten erlebt hatte.
Eine minimale Oberkörperdrehung nach rechts oder links ließ sie sogleich Vorkreuzen. Aus kleinsten Pendelbewegungen seiner Schulterachse zauberte sie kleine, elegante Ochos. Di Sarli wäre beim Anblick ihrer Bewegungen entzückt gewesen, so gekonnt setzte sie seine Musik in Bilder um, durch gekonntes, achtsames Folgen. 

In dieser Nacht ließen sie so gut wie keine Tanda aus. Zu intensiv war das Tanzerlebnis. Besonders für Eric.
Ihre Drehungen waren eine pure Freude, und sogar Rückwärts-Ochos im Achteltakt meisterte sie mit Bravour.
Colgadas fühlten sich rund und dynamisch an, allein dadurch, dass sie ihre Achse vollständig aufgab und sie vertrauensvoll in Erics Hände legte.
Besondere Freude bereitete ihm das Tanzen von Volcadas. Endlich einmal eine Frau, die mit dem freien Bein nach dem Kippen nicht sofort wieder schließt, sondern darauf wartet, dass das Schließen – in welche Richtung auch immer – geführt wird.
Die Sacadas tanzte er blind, ohne hinsehen zu müssen, wo sich ihre Füße befanden. Die Gefahr, bei seinem Eintritt einen Fuß von ihr zu treffen, bestand zu keiner Zeit, denn sie setzte ihre Schritte exakt in diesem imaginären Rechteck, das die Moulinette vorgibt und ein angenehmes und ungefährliches Tanzen ermöglichte. Häufig setzen Frauen den Rückwärtsschritt in der Drehung nicht in einem 180° Winkel, sondern setzen das Bein früher ab, was aus einem Rechteck eine Ellipse macht, die eine Sacada schwierig macht und dem Führenden die Achse nimmt.
Barridas. Herrschaftszeit noch einmal, wie lange ist es her, dass ich auf eine Frau getroffen bin, die derart exzellent alle Formen einer Barrida tanzen kann, dachte Eric verzückt. Llevade de Pie, das Fußführen, gestaltete sie derart butterweich, dass Eric aus dem Verzücken nicht mehr heraus kam.

Zu Hause angekommen duschte Eric zunächst, bevor er sich, eingewickelt in seinem dicken Frottee-Bademantel, kraftlos aber glücklich in seinen Ohrensessel fallen ließ. Er legte die Pugliese-CD ein, schenkte sich das bauchige Rotwein-Glas randvoll ein und ließ den Abend noch einmal Revue. Der Fluch des Tangos ist, dass man mit seinen Erinnerungen alleine bleibt. Dieser Mix aus Bildern, Gerüchen, Gedanken, Gefühlen lässt sich nicht mit anderen teilen, weil nur du die Musik dazu hörst, die alles miteinander verbindet und sich tief in dein Gedächtnis brennt und dich süchtig macht.
Und so saß Eric allein vor seinem Kopfkino und durchlebte noch einmal diese göttliche Tanznacht, mit dieser wunderbaren Tänzerin, die die hohe Kunst des Folgens ebenso beherrschte, wie er das Führen. 

Der Morgen dämmerte bereits, das Glas Rotwein war leer, als sich seine Augen mit Tränen füllten bei dem Gedanken, Isabell nie wiederzusehen. Melbourne ist weit.

Tango Poster und Wandbild in einer Milomnga
Wandbilder
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